Entscheidungsstichwort (Thema)
Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Verordnung (EG) Nr. 810/2009. Visakodex der Gemeinschaft. Art. 21 und 34. Nationale Rechtsvorschriften. Einschleusen von Drittstaatsangehörigen in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats. Durch arglistige Täuschung erlangte Visa. Strafrechtliche Verfolgung des Schleusers
Beteiligte
Tenor
Die Art. 21 und 34 der Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft (Visakodex) sind dahin auszulegen, dass sie einer aus der Anwendung nationaler Rechtsvorschriften resultierenden Strafbarkeit wegen Einschleusens von Ausländern in Fällen, in denen die geschleusten Personen, die Drittstaatsangehörige sind, über ein Visum verfügen, das sie durch arglistige Täuschung der zuständigen Behörden des Ausstellermitgliedstaats über den wahren Reisezweck erlangt haben und das nicht zuvor annulliert worden ist, nicht entgegenstehen.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesgerichtshof (Deutschland) mit Entscheidung vom 8. Februar 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 17. Februar 2012, in dem Strafverfahren gegen
Minh Khoa Vo
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. N. Cunha Rodrigues (Berichterstatter) sowie der Richter U. Lõhmus, A. Rosas, A. Ó Caoimh und C. G. Fernlund,
Generalanwältin: E. Sharpston,
Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,
aufgrund des Antrags des vorlegenden Gerichts vom 8. Februar 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 17. Februar 2012, das Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 104b der Verfahrensordnung des Gerichtshofs einem Eilverfahren zu unterwerfen,
aufgrund der Entscheidung der Zweiten Kammer vom 28. Februar 2012, diesem Antrag stattzugeben,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 22. März 2012,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Herrn Vo, vertreten durch Rechtsanwältin K. Beulich,
- des Generalbundesanwalts beim Bundesgerichtshof, vertreten durch K. Lohse und P. Knauss als Bevollmächtigte,
- der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und N. Graf Vitzthum als Bevollmächtigte,
- der hellenischen Regierung, vertreten durch T. Papadopoulou als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Wils und W. Bogensberger als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Generalanwältin
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 21 und 34 der Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft (Visakodex) (ABl. L 243, S. 1).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen Herrn Vo, der verurteilt worden ist, weil er Drittstaatsangehörige nach Deutschland geschleust hat, die ihre Visa durch arglistige Täuschung erlangt hatten.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Der Visakodex
Rz. 3
Der dritte Erwägungsgrund des Visakodexes lautet:
„In Bezug auf die Visumpolitik ist die Aufstellung eines ‚gemeinsamen Bestands’ an Rechtsvorschriften, insbesondere durch Konsolidierung und Weiterentwicklung des bestehenden Besitzstands auf diesem Gebiet (der entsprechenden Bestimmungen des Schengener Durchführungsübereinkommens vom 14. Juni 1985 und der Gemeinsamen Konsularischen Instruktion), eine wesentliche Komponente der im Haager Programm zur Stärkung von Freiheit, Sicherheit und Recht in der Europäischen Union festgeschriebenen Weiterentwicklung der gemeinsamen Visumpolitik ‚als Teil eines vielschichtigen Systems, mit dem durch die weitere Harmonisierung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften und der Bearbeitungsgepflogenheiten bei den örtlichen konsularischen Dienststellen legale Reisen erleichtert und die illegale Einwanderung bekämpft werden sollen’.”
Rz. 4
Nach Art. 1 Abs. 1 des Visakodexes werden mit ihm die Verfahren und Voraussetzungen für die Erteilung von Visa für die Durchreise durch das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten oder für Aufenthalte in diesem Gebiet von höchstens drei Monaten je Sechsmonatszeitraum festgelegt; Art. 1 Abs. 2 bestimmt, dass Drittstaatsangehörige beim Überschreiten der Außengrenzen der Mitgliedstaaten im Besitz eines Visums sein müssen.
Rz. 5
In Art. 2 des Visakodexes heißt es:
„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck:
- ‚Drittstaatsangehöriger’ jede Person, die nicht Unionsbürger im Sinne von Artikel 17 Absatz 1 EG-Vertrag ist;
‚Visum’ die von einem Mitgliedstaat erteilte Genehmigung im Hinblick auf
- die Durchreise durch das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten oder einen geplanten Aufenthalt in diesem Gebiet von höchstens drei Monaten je Sechsmonatszeitraum ab dem Zeitpunkt der ersten Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten …
…”
Rz. 6
Art. 14 Abs. 1 des Visakodexes bestimmt:
„(1) Bei der Beantragung eines einheitlichen Visums hat der Antragsteller Folgendes vorzulegen:
a) Unterlagen mit Angaben zum Zweck der Reise;
…
d) Angaben, anhand...