Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Erforderlichkeit der erbetenen Auslegung, damit das vorlegende Gericht sein Urteil erlassen kann. Richterliche Unabhängigkeit. Bedingungen der Ernennung von Richtern der ordentlichen Gerichtsbarkeit. Möglichkeit, ein rechtskräftiges Strafurteil im Stadium eines Verfahrens zur Vollstreckung dieses Urteils in Frage zu stellen. Unzulässigkeit der Vorabentscheidungsersuchen
Normenkette
AEUV Art. 267
Beteiligte
Tenor
Die vom Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau, Polen) mit Entscheidungen vom 18. Februar 2023 (C-114/23 und C-115/23), vom 6. März 2023 (C-132/23) und vom 14. März 2023 (C-160/23) eingereichten Vorabentscheidungsersuchen sind unzulässig.
Tatbestand
In den verbundenen Rechtssachen C-114/23 [Sapira]i, C-115/23 [Jurckow]i, C-132/23 [Kosieski]iund C-160/23 [Oczka](
betreffend vier Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau, Polen) mit Entscheidungen vom 18. Februar 2023 (C-114/23 und C-115/23), vom 6. März 2023 (C-132/23) und vom 14. März 2023 (C-160/23), beim Gerichtshof eingegangen am 27. Februar 2023 (C-114/23 und C-115/23), am 6. März 2023 (C-132/23) und am 15. März 2023 (C-160/23), in Strafverfahren gegen
KB(C-114/23),
RZ(C-115/23),
AN(C-132/23),
CG(C-160/23),
Beteiligte:
Prokuratura Rejonowa Warszawa Ochota(C-114/23 und C-160/23),
Prokuratura Okręgowa w Warszawie(C-115/23 und C-132/23),
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe (Berichterstatterin), des Präsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Dritten Kammer sowie der Richter N. Piçarra, N. Jääskinen und M. Gavalec,
Generalanwältin: T. Ćapeta,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – der Prokuratura Okręgowa w Warszawie, vertreten durch A. Bortkiewicz,
- – der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna und S. Żyrek als Bevollmächtigte,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch K. Herrmann und P. J. O. Van Nuffel als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) sowie der Grundsätze der Rechtssicherheit, der Unabänderlichkeit rechtskräftiger Entscheidungen, der Verhältnismäßigkeit und der Verfahrensautonomie.
Rz. 2
Sie ergehen im Rahmen von Verfahren zur Vollstreckung von vier rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidungen, mit denen KB, RZ, AN und CG strafrechtlich verurteilt wurden.
Rechtlicher Rahmen
Rz. 3
Art. 9 §§ 1 und 2 der Ustawa – Kodeks karny wykonawczy (Gesetz über das Strafvollstreckungsgesetzbuch) vom 6. Juni 1997 (Dz. U. 2023, Pos. 127, im Folgenden: Strafvollstreckungsgesetzbuch) bestimmt:
„§ 1. Das Vollstreckungsverfahren beginnt unverzüglich, nachdem das Urteil vollstreckbar geworden ist.
§ 2. Ein Urteil oder ein Beschluss nach Art. 420 der Ustawa – Kodeks postępowania karnego [(Gesetz über die Strafprozessordnung) vom 6. Juni 1997 (Dz. U. 2022, Pos. 1375)] betreffend eine Einziehung oder materielle Beweise wird vorbehaltlich besonderer gesetzlicher Bestimmungen mit Erlangung der Rechtskraft vollstreckbar.“
Rz. 4
Art. 13 § 1 des Strafvollstreckungsgesetzbuchs sieht vor:
„Die für die Vollstreckung der Entscheidung zuständige Behörde und jede von der Entscheidung unmittelbar betroffene Person können das Gericht, das die Entscheidung erlassen hat, ersuchen, Zweifel hinsichtlich der Vollstreckung der Entscheidung oder Beanstandungen hinsichtlich der Strafbemessung auszuräumen. Gegen den Beschluss des Gerichts kann Rechtsmittel eingelegt werden.“
Rz. 5
Art. 15 § 1 des Strafvollstreckungsgesetzbuchs lautet:
„Bei Vollstreckungsverjährung, Tod des Verurteilten oder Vorliegen anderer Gründe, die ein Vollstreckungsverfahren ausschließen, stellt das Gericht das Vollstreckungsverfahren ein.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
Rz. 6
Mit Urteil des Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau, Polen) vom 28. Dezember 2022 wurde KB wegen öffentlicher Beleidigung des Präsidenten der Republik Polen am 1. und 2. März 2022 über das soziale Netzwerk Twitter zu einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten auf Bewährung und zu einer Geldstrafe verurteilt (Rechtssache C-114/23).
Rz. 7
Mit Urteil desselben Gerichts vom 28. November 2022 wurde RZ wegen der auf einen eigenen finanziellen Vorteil ausgerichteten Veranlassung einer anderen Person, eine für sie ungünstige Vermögensverfügung zu treffen, zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr auf Bewährung und zu einer Geldstrafe verurteilt (Rechtssache C-115/23).
Rz. 8
Mit Urteil wiederum desselben Gerichts vom 9. Februar 2023 wurde AN wegen zweier Computerbetrugsdelikte zu einer Ge...