Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Rechtsstaatlichkeit. Unabhängigkeit der Justiz. Nationale Regelung, nach der der Justizminister befugt ist, Richter an Gerichte höherer Ordnung abzuordnen und die Abordnung zu beenden. Spruchkörper in Strafsachen, denen vom Justizminister abgeordnete Richter angehören. Unschuldsvermutung
Normenkette
EUV Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2; Richtlinie (EU) 2016/343
Beteiligte
Prokuratura Rejonowa w Mińsku Mazowieckim |
Tenor
Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 2 EUV und Art. 6 Abs. 1 und 2 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren sind dahin auszulegen, dass sie innerstaatlichen Rechtsvorschriften entgegenstehen, nach denen der Justizminister eines Mitgliedstaats einen Richter nach Kriterien, die nicht bekannt gegeben werden, auf bestimmte oder unbestimmte Dauer an ein Strafgericht höherer Ordnung abordnen und die Abordnung unabhängig davon, ob sie auf bestimmte oder unbestimmte Dauer erfolgt ist, jederzeit ohne Angabe von Gründen beenden kann.
Tatbestand
In den verbundenen Rechtssachen
betreffend sieben Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sąd Okręgowy w Warszawie (Regionalgericht Warschau, Polen) mit Entscheidungen vom 2. September 2019 (C-749/19), vom 16. September 2019 (C-748/19), vom 23. September 2019 (C-750/19 und C-754/19), vom 10. Oktober 2019 (C-751/19) und vom 15. Oktober 2019 (C-752/19 und C-753/19), beim Gerichtshof eingegangen am 15. Oktober 2019, in den Strafverfahren gegen
WB (C-748/19),
XA,
YZ (C-749/19),
DT (C-750/19),
ZY (C-751/19),
AX (C-752/19),
BV (C-753/19),
CU (C-754/19),
Beteiligte:
Prokuratura Krajowa,
vormals
Prokuratura Rejonowa w Mińsku Mazowieckim (C-748/19),
Prokuratura Rejonowa Warszawa-Żoliborz w Warszawie (C-749/19),
Prokuratura Rejonowa Warszawa-Wola w Warszawie (C-750/19, C-753/19 und C-754/19),
Prokuratura Rejonowa w Pruszkowie (C-751/19),
Prokuratura Rejonowa Warszawa-Ursynów w Warszawie (C-752/19),
und Pictura sp. z o.o. (C-754/19),
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe, der Kammerpräsidenten C. Lycourgos, E. Regan, S. Rodin und I. Jarukaitis (Berichterstatter), der Richter J.-C. Bonichot, P. G. Xuereb und N. Piçarra, der Richterin L. S. Rossi und des Richters A. Kumin,
Generalanwalt: M. Bobek,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Prokuratura Rejonowa w Mińsku Mazowieckim, vertreten durch J. Ziarkiewicz, Staatsanwalt der Region Lublin,
- der Prokuratura Rejonowa Warszawa-Żoliborz w Warszawie, der Prokuratura Rejonowa Warszawa-Wola w Warszawie, der Prokuratura Rejonowa w Pruszkowie und der Prokuratura Rejonowa Warszawa-Ursynów w Warszawie, vertreten durch A. Szeliga und F. Wolski, Staatsanwälte der Region Warschau,
- der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch K. Herrmann, P. J. O. Van Nuffel, R. Troosters und H. Krämer als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 20. Mai 2021
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 2 EUV und von Art. 6 Abs. 1 und 2 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren (ABl. 2016, L 65, S. 1) in Verbindung mit deren 22. Erwägungsgrund.
Rz. 2
Sie ergehen in Strafverfahren gegen WB (C-748/19), XA und YZ (C-749/19), DT (C-750/19), ZY (C-751/19), AX (C-752/19), BV (C-753/19) und CU (C-754/19).
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Im 22. Erwägungsgrund der Richtlinie 2016/343 heißt es:
„Die Beweislast für die Feststellung der Schuld von Verdächtigen und beschuldigten Personen liegt bei der Strafverfolgungsbehörde; Zweifel sollten dem Verdächtigen oder der beschuldigten Person zugutekommen. Unbeschadet einer möglichen Befugnis des Gerichts zur Tatsachenfeststellung von Amts wegen, der Unabhängigkeit der Justiz bei der Prüfung der Schuld des Verdächtigen oder der beschuldigten Person und der Anwendung von Tatsachen- oder Rechtsvermutungen bezüglich der strafrechtlichen Verantwortlichkeit eines Verdächtigen oder einer beschuldigten Person, läge ein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung vor, wenn die Beweislast von der Strafverfolgungsbehörde auf die Verteidigung verlagert würde. Derartige Vermutungen sollten unter Berücksichtigung der Bedeutung der betroffenen Belange und unter Wahrung der Verteidigungsrechte auf ein vertretbares Maß beschränkt werden, und die eingesetzten Mittel sollten in einem angemessenen Verhältnis zu dem angestrebten legitimen Ziel st...