Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen. Gerichtliche Zuständigkeit und Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen. Anwendungsbereich. Vertrag, den ein Verbraucher, der Staatsangehöriger eines Drittstaats ist, mit einer Bank mit Sitz in einem Mitgliedstaat geschlossen hat. Klage gegen diesen Verbraucher. Gericht des letzten bekannten Wohnsitzes dieses Verbrauchers im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats
Normenkette
Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 Art. 6 Abs. 1
Beteiligte
Credit Agricole Bank Polska |
Credit Agricole Bank Polska S.A. |
Tenor
Art. 6 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen
ist dahin auszulegen, dass,
wenn sich der letzte bekannte Wohnsitz eines Beklagten, der Drittstaatsangehöriger und Verbraucher ist, im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats des angerufenen Gerichts befindet und es diesem Gericht nicht gelingt, den gegenwärtigen Wohnsitz dieses Beklagten festzustellen, und es auch nicht über beweiskräftige Indizien verfügt, die den Schluss zulassen, dass der Beklagte seinen Wohnsitz tatsächlich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats oder außerhalb des Gebiets der Europäischen Union hat, sich die Zuständigkeit für die Entscheidung dieses Rechtsstreits nicht nach dem Recht des Mitgliedstaats dieses Gerichts bestimmt, sondern nach Art. 18 Abs. 2 dieser Verordnung, der dem Gericht die Zuständigkeit für die Entscheidung eines solchen Rechtsstreits zuweist, in dessen Zuständigkeitsbereich sich der letzte bekannte Wohnsitz dieses Beklagten befindet.
Tatbestand
In der Rechtssache C-183/23
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sąd Rejonowy dla Warszawy – Řródmieścia w Warszawie (Rayongericht Warschau-Řródmieście, Polen) mit Entscheidung vom 27. Februar 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 22. März 2023, in dem Verfahren
Credit Agricole Bank Polska S.A.
gegen
AB
erlässt
DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin O. Spineanu-Matei (Berichterstatterin), des Richters J.-C. Bonichot und der Richterin L. S. Rossi,
Generalanwalt: N. Emiliou,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna und S. Żyrek als Bevollmächtigte,
- – der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und M. Hellmann als Bevollmächtigte,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Hottiaux und S. Noë als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 Abs. 1 und Art. 26 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2012, L 351, S. 1).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Credit Agricole Bank Polska S.A. mit Sitz in Polen und AB, einem Verbraucher, dessen aktuelle Anschrift unbekannt ist, wegen der Zahlung eines Geldbetrags, den diese Bank aufgrund eines Verbraucherkreditvertrags von AB fordert.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
In den Erwägungsgründen 6, 15 und 18 der Verordnung Nr. 1215/2012 heißt es:
„(6) Um den angestrebten freien Verkehr der Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen zu verwirklichen, ist es erforderlich und angemessen, dass die Vorschriften über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen im Wege eines Unionsrechtsakts festgelegt werden, der verbindlich und unmittelbar anwendbar ist.
…
(15) Die Zuständigkeitsvorschriften sollten in hohem Maße vorhersehbar sein und sich grundsätzlich nach dem Wohnsitz des Beklagten richten. …
…
(18) Bei Versicherungs-, Verbraucher- und Arbeitsverträgen sollte die schwächere Partei durch Zuständigkeitsvorschriften geschützt werden, die für sie günstiger sind als die allgemeine Regelung.“
Rz. 4
Art. 4 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 bestimmt:
„Vorbehaltlich der Vorschriften dieser Verordnung sind Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben, ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit vor den Gerichten dieses Mitgliedstaats zu verklagen.“
Rz. 5
Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 lautet:
„Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats haben, können vor den Gerichten eines anderen Mitgliedstaats nur gemäß den Vorschriften der Abschnitte 2 bis 7 dieses Kapitels verklagt werden.“
Rz. 6
In Art. 6 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 heißt es:
„Hat der Beklagte keinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats, so bestimmt sich...