Entscheidungsstichwort (Thema)
Gerichtliche Zuständigkeit und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen. Von einem Verbraucher mit Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats bei einer in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen Bank abgeschlossener Hypothekendarlehensvertrag. Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, die die Erhebung einer Klage gegen einen Verbraucher bei einem Gericht dieses Mitgliedstaats zulassen, wenn der genaue Wohnsitz des Verbrauchers nicht bekannt ist
Beteiligte
Tenor
1. Die Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ist dahin auszulegen, dass die Anwendung der in dieser Verordnung festgelegten Zuständigkeitsvorschriften voraussetzt, dass die fragliche Situation in dem Rechtsstreit, mit dem ein mitgliedstaatliches Gericht befasst ist, Fragen in Bezug auf die Bestimmung der internationalen Zuständigkeit dieses Gerichts aufwerfen kann. Eine solche Situation besteht in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens, in dem ein mitgliedstaatliches Gericht mit einer Klage gegen einen Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats befasst ist, dessen Wohnsitz diesem Gericht nicht bekannt ist.
2. Die Verordnung Nr. 44/2001 ist dahin auszulegen, dass
- in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, in der ein Verbraucher, der Partei eines langfristigen Hypothekendarlehensvertrags ist, mit dem die Verpflichtung verbunden ist, dem Vertragspartner jede Adressänderung mitzuteilen, seinen Wohnsitz aufgibt, bevor gegen ihn eine Klage wegen Verletzung seiner vertraglichen Pflichten erhoben wird, die Gerichte des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet sich der letzte bekannte Wohnsitz des Verbrauchers befindet, nach Art. 16 Abs. 2 dieser Verordnung zuständig sind, über diese Klage zu befinden, wenn es ihnen nicht gelingt, in Anwendung von Art. 59 dieser Verordnung den aktuellen Wohnsitz des Beklagten festzustellen, und sie auch nicht über beweiskräftige Indizien verfügen, die den Schluss zulassen, dass der Beklagte seinen Wohnsitz tatsächlich außerhalb des Unionsgebiets hat;
- diese Verordnung die Anwendung einer Bestimmung des nationalen Prozessrechts eines Mitgliedstaats, die in dem Bemühen, Fälle der Justizverweigerung zu vermeiden, die Durchführung von Verfahren gegen Personen, deren Aufenthalt unbekannt ist, in deren Abwesenheit ermöglicht, nicht verwehrt, wenn sich das angerufene Gericht vor der Entscheidung über den Rechtsstreit vergewissert hat, dass alle Nachforschungen, die der Sorgfaltsgrundsatz und der Grundsatz von Treu und Glauben gebieten, vorgenommen worden sind, um den Beklagten ausfindig zu machen.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Okresní soud v Chebu (Tschechische Republik) mit Entscheidung vom 1. Juni 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 5. Juli 2010, in dem Verfahren
Hypoteční banka a.s.
gegen
Udo Mike Lindner
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Tizzano, der Richter M. Safjan (Berichterstatter), A. Borg Barthet und J.-J. Kasel sowie der Richterin M. Berger,
Generalanwältin: V. Trstenjak,
Kanzler: K. Sztranc-Sławiczek, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 25. Mai 2010,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Hypoteční banka a.s., vertreten durch J. Hrouzek, advokát,
- der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
- der dänischen Regierung, vertreten durch C. Vang als Bevollmächtigten,
- der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues und B. Beaupère-Manokha als Bevollmächtigte,
- der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér, K. Szíjjártó und K. Molnár als Bevollmächtigte,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch C. Wissels als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Šimerdová und A.-M. Rouchaud-Joët als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 8. September 2011
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 81 AEUV, der Art. 16 Abs. 2, 17 Nr. 3 und 24 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1) und von Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 93/13/EWG des Rates vom 5. April 1993 über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen (ABl. L 95, S. 29).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Hypoteční banka a.s. (im Folgenden: Hypoteční banka) und Herrn Lindner, dessen aktueller Wohnsitz unbekannt ist, wegen Zahlung eines Betrags in Höhe von ungefähr 4,4 Millionen tschechischer Kronen (CZK), was den Rückständen aus einem Hypo...