Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorabentscheidungsersuchen. Freier Dienstleistungsverkehr. Glücksspiele. Regelung, die Verbote für Glücksspiele im Internet vorsieht, die in einem Gliedstaat eines Mitgliedstaats für einen begrenzten Zeitraum nicht gegolten haben. Kohärenz. Verhältnismäßigkeit
Normenkette
AEUV Art. 56
Beteiligte
Westdeutsche Lotterie GmbH & Co. OHG |
Tenor
Art. 56 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer der Mehrheit der Gliedstaaten eines föderal strukturierten Mitgliedstaats gemeinsamen Regelung, die die Veranstaltung und die Vermittlung von Glücksspielen im Internet grundsätzlich verbietet, während ein einzelner Gliedstaat für einen begrenzten Zeitraum neben den restriktiven Rechtsvorschriften der übrigen Gliedstaaten bestehende weniger strenge Rechtsvorschriften beibehalten hat, dann nicht entgegensteht, wenn diese gemeinsame Regelung den in der Rechtsprechung des Gerichtshofs aufgestellten Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit genügt, was das vorlegende Gericht zu prüfen hat.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesgerichtshof (Deutschland) mit Entscheidung vom 24. Januar 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 28. März 2013, in dem Verfahren
Digibet Ltd,
Gert Albers
gegen
Westdeutsche Lotterie GmbH & Co. OHG
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Ilešič, der Richter C. G. Fernlund, A. Ó Caoimh, der Richterin C. Toader (Berichterstatterin) und des Richters E. Jarašiūnas,
Generalanwältin: E. Sharpston,
Kanzler: A. Impellizzeri, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 2. April 2014,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Digibet Ltd und von Herrn Albers, vertreten durch die Rechtsanwälte R. Reichert und U. Karpenstein sowie durch R. A. Jacchia, avvocato,
- der Westdeutschen Lotterie GmbH & Co. OHG, vertreten durch die Rechtsanwälte M. Hecker, M. Ruttig und M. Pagenkopf,
- der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und J. Möller als Bevollmächtigte,
- der belgischen Regierung, vertreten durch L. Van den Broeck, M. Jacobs und C. Pochet als Bevollmächtigte sowie durch R. Verbeke, advocaat,
- der maltesischen Regierung, vertreten durch A. Buhagiar als Bevollmächtigte,
- der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandes, P. de Sousa Inês und A. Silva Coelho als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch F. W. Bulst, I. V. Rogalski und H. Tserepa-Lacombe als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Art. 56 AEUV.
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Digibet Ltd (im Folgenden: Digibet) und Herrn Albers einerseits und der Westdeutschen Lotterie GmbH & Co. OHG (im Folgenden: Westdeutsche Lotterie) andererseits wegen des Verbots des Glücksspielangebots von Digibet im Internet.
Deutsches Recht
Rz. 3
Gemäß den Art. 70 und 72 des deutschen Grundgesetzes fällt die Gesetzgebung im Bereich der Glücksspiele in die Zuständigkeit der Länder.
Rz. 4
Die 16 Länder schlossen daher 2008 einen Staatsvertrag zum Glücksspielwesen (Glücksspielstaatsvertrag, im Folgenden: GlüStV 2008), mit dem sie gemeinsame Regeln in diesem Bereich festlegten. Dieser Vertrag sollte ab dem 1. Januar 2008 vier Jahre lang gelten, so dass das Ende seiner Laufzeit auf den 31. Dezember 2011 festgesetzt war.
Rz. 5
Auf den GlüStV 2008 folgte 2012 der Glücksspieländerungsstaatsvertrag (im Folgenden: GlüStV 2012), der am 1. Juli 2012 in Kraft trat. Dieser Vertrag wurde zunächst von allen Ländern außer Schleswig-Holstein ratifiziert.
Rz. 6
Zur Liberalisierung des Glücksspielrechts hatte das Land Schleswig-Holstein nämlich am 20. Oktober 2011 ein Gesetz zur Neuordnung des Glücksspiels (GVOBl. Schl.-H. S. 280, im Folgenden: GlSpielG SH) verabschiedet, das am 1. Januar 2012 in Kraft trat.
Rz. 7
Anders als § 5 Abs. 3 GlüStV 2008 lässt § 26 GlSpielG SH Werbung für öffentliches Glücksspiel im Fernsehen oder im Internet grundsätzlich zu.
Rz. 8
Nach dem GlSpielG SH sind das Veranstalten und das Vermitteln von Glücksspielen im Internet nicht mehr verboten. Sie bedürfen zwar weiterhin der Genehmigung der zuständigen Landesbehörde, die Genehmigung für den Vertrieb öffentlicher Wetten ist aber bei Vorliegen bestimmter objektiver Voraussetzungen jedem Bürger und jeder juristischen Person in der Europäischen Union zu erteilen.
Rz. 9
In allen übrigen Ländern sind nach § 4 Abs. 4 und § 5 Abs. 3 Satz 1 GlüStV 2012 das Veranstalten und das Vermitteln öffentlicher Glücksspiele im Internet sowie die Werbung für öffentliches Glücksspiel im Fernsehen, im Internet sowie über Telekommunikationsanlagen grundsätzlich weiterhin verboten. Nach diesem Vertrag kann die Verwendung des Internets zu diesen Zwecken nämlich nur ausnahmsw...