Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Eilvorabentscheidungsverfahren. Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Europäischer Haftbefehl. Begriff ‚ausstellende Justizbehörde’. Kriterien. Von der Staatsanwaltschaft eines Mitgliedstaats zur Strafverfolgung ausgestellter Europäischer Haftbefehl
Normenkette
Rahmenbeschluss 2002/584/JI Art. 6 Abs. 1
Beteiligte
Openbaar Ministerie (Parquet Suède) |
Tenor
Der Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass die einem wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz innewohnenden Anforderungen, in deren Genuss eine Person kommen muss, gegen die ein Europäischer Haftbefehl zur Strafverfolgung erlassen wurde, erfüllt sind, wenn nach den Rechtsvorschriften des Ausstellungsmitgliedstaats die Voraussetzungen für die Ausstellung dieses Haftbefehls und insbesondere seine Verhältnismäßigkeit in diesem Mitgliedstaat gerichtlich überprüft werden.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Rechtbank Amsterdam (erstinstanzliches Gericht Amsterdam, Niederlande) mit Entscheidung vom 22. August 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 22. August 2019, in dem Verfahren wegen der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls gegen
XD
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.-C. Bonichot sowie der Richter M. Safjan und L. Bay Larsen, der Richterin C. Toader (Berichterstatterin) und des Richters N. Jääskinen,
Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,
Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 24. Oktober 2019,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von XD, vertreten durch D. Bektesevic und T. E. Korff, advocaten,
- des Openbaar Ministerie, vertreten durch K. van der Schaft und N. Bakkenes,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und J. Langer als Bevollmächtigte,
- Irlands, vertreten durch G. Hodge und M. Browne als Bevollmächtigte im Beistand von R. Kennedy, SC,
- der spanischen Regierung, vertreten durch L. Aguilera Ruiz als Bevollmächtigten,
- der französischen Regierung, vertreten durch A. Daniel und A.-L. Desjonquères als Bevollmächtigte,
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von L. Fiandaca, avvocato dello Stato,
- der finnischen Regierung, vertreten durch M. Pere als Bevollmächtigte,
- der schwedischen Regierung, vertreten durch A. Falk, C. Meyer-Seitz, H. Shev, J. Lundberg und H. Eklinder als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid und R. Troosters als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 26. November 2019
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss 2002/584).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls in den Niederlanden, der am 27. Mai 2019 vom Åklagarmyndigheten (Staatsanwaltschaft, Schweden) zur Strafverfolgung von XD erlassen wurde.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Die Erwägungsgründe 5, 6, 10 und 12 des Rahmenbeschlusses 2002/584 lauten:
„(5) Aus dem der Union gesetzten Ziel, sich zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu entwickeln, ergibt sich die Abschaffung der Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten und deren Ersetzung durch ein System der Übergabe zwischen Justizbehörden. Die Einführung eines neuen, vereinfachten Systems der Übergabe von Personen, die einer Straftat verdächtigt werden oder wegen einer Straftat verurteilt worden sind, für die Zwecke der strafrechtlichen Verfolgung oder der Vollstreckung strafrechtlicher Urteile ermöglicht zudem die Beseitigung der Komplexität und der Verzögerungsrisiken, die den derzeitigen Auslieferungsverfahren innewohnen. Die bislang von klassischer Kooperation geprägten Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten sind durch ein System des freien Verkehrs strafrechtlicher justizieller Entscheidungen – und zwar sowohl in der Phase vor der Urteilsverkündung als auch in der Phase danach – innerhalb des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu ersetzen.
(6) Der Europäische Haftbefehl im Sinne des vorliegenden Rahmenbeschlusses stellt im strafrechtlichen Bereich die erste konkrete Verwirklichung des vom Europäischen Rat als ‚Eckstein’ der justiziellen Zusammenarbeit qualifizierten Prinzips der gegenseitigen Anerkennung dar.
…
(...