Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Zulässigkeit. Begriff ‚nationales Gericht’. Disziplinargericht der Anwaltskammer. Disziplinarermittlungen gegen einen Rechtsanwalt. Entscheidung des Disziplinarbeauftragten, mit der ein Disziplinarvergehen verneint und die Untersuchung eingestellt wird. Beschwerde des Justizministers beim Disziplinargericht der Anwaltskammer. Dienstleistungen im Binnenmarkt. Genehmigungsregelung. Widerruf der Genehmigung. Unanwendbarkeit
Normenkette
AEUV Art. 267; Richtlinie 2006/123/EG Art. 4 Nr. 6, Art. 10 Abs. 6; Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 47
Beteiligte
Tenor
Art. 10 Abs. 6 der Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt ist dahin auszulegen, dass Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union nicht seinetwegen auf ein Beschwerdeverfahren anwendbar ist, das von einer Behörde vor einem anwaltlichen Disziplinargericht angestrengt wurde, auf die Aufhebung einer Entscheidung gerichtet ist, mit der ein Disziplinarbeauftragter eine Untersuchung, die gegen einen Rechtsanwalt geführt wurde, eingestellt hat, nachdem er das Vorliegen eines diesem zuzurechnenden Disziplinarverstoßes verneint hatte, und im Fall der Aufhebung dieser Entscheidung zur Zurückverweisung der Akte an den Disziplinarbeauftragten führen soll.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sąd Dyscyplinarny Izby Adwokackiej w Warszawie (Disziplinargericht der Anwaltskammer Warschau, Polen) mit Entscheidung vom 24. Januar 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 31. Januar 2020, in dem Verfahren auf Betreiben des
Minister Sprawiedliwosci,
Beteiligte:
Prokurator Krajowy – Pierwszy Zastępca Prokuratora Generalnego,
Rzecznik Dyscyplinarny Izby Adwokackiej w Warszawie,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung der Präsidentin der Zweiten Kammer A. Prechal (Berichterstatterin) in Wahrnehmung der Aufgaben der Präsidentin der Dritten Kammer sowie der Richter J. Passer und F. Biltgen, der Richterin L. S. Rossi und des Richters N. Wahl,
Generalanwalt: M. Bobek,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- des Prokurator Krajowy – Pierwszy Zastępca Prokuratora Generalnego, vertreten durch R. Hernand und B. Swięczkowski,
- der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch K. Bulterman und J. M. Hoogveld als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, zunächst vertreten durch L. Armati, K. Herrmann, S. L. Kalėda und H. Støvlbæk, dann durch L. Armati, K. Herrmann und S. L. Kalėda als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 17. Juni 2021
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt (ABl. 2006, L 376, S. 36) sowie von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Verfahrens auf Betreiben des Minister Sprawiedliwosci (Justizminister, Polen) gegen die Entscheidung eines Disziplinarbeauftragten, mit der eine gegen einen Rechtsanwalt eingeleitete Untersuchung eingestellt wurde, nachdem kein diesem zuzurechnendes Disziplinarvergehen festgestellt worden war.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 2006/123
Rz. 3
In den Erwägungsgründen 33 und 39 der Richtlinie 2006/123 heißt es:
„(33) Die von dieser Richtlinie erfassten Dienstleistungen umfassen einen weiten Bereich von Tätigkeiten, die einem ständigen Wandel unterworfen sind, … Die von dieser Richtlinie erfassten Dienstleistungen umfassen ferner Dienstleistungen, die sowohl für Unternehmen als auch für Verbraucher angeboten werden, wie etwa Rechts- oder Steuerberatung, …
…
(39) Der Begriff der Genehmigungsregelung sollte unter anderem die Verwaltungsverfahren, in denen Genehmigungen, Lizenzen, Zulassungen oder Konzessionen erteilt werden, erfassen sowie die Verpflichtung zur Eintragung bei einer Berufskammer oder in einem Berufsregister, einer Berufsrolle oder einer Datenbank, die Zulassung durch eine Einrichtung oder den Besitz eines Ausweises, der die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Beruf bescheinigt, falls diese Voraussetzung dafür sind, eine Tätigkeit ausüben zu können. …”
Rz. 4
Art. 1 Abs. 5 dieser Richtlinie bestimmt:
„Diese Richtlinie berührt nicht das Strafrecht der Mitgliedstaaten. Die Mitgliedstaaten dürfen jedoch nicht unter Umgehung der Vorschriften dieser Richtlinie die Dienstleistungsfreiheit dadurch einschränken, dass sie Strafrechtsbestimmungen anwenden, die die Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit gezielt regeln oder beeinflussen.”
Rz. 5
Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie sieht vor:
„Widersprechen Be...