Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Einwanderungspolitik. Recht auf Familienzusammenführung. Ausnahmen vom Anwendungsbereich der Richtlinie. Ausschluss subsidiär schutzberechtigter Personen. Erstreckung des Rechts auf Familienzusammenführung auf diese Personen aufgrund nationalen Rechts. Zuständigkeit des Gerichtshofs. Fehlen amtlicher Unterlagen zum Nachweis familiärer Bindungen. Für nicht hinreichend plausibel befundene Erklärungen. Den Behörden der Mitgliedstaaten obliegende Verpflichtungen zur Durchführung ergänzender Maßnahmen. Grenzen
Normenkette
Richtlinie 2003/86/EG Art. 3 Abs. 2 Buchst. c, Art. 11 Abs. 2
Beteiligte
Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie |
Tenor
1. Der Gerichtshof der Europäischen Union ist in einem Fall wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, in dem das vorlegende Gericht über einen Antrag auf Familienzusammenführung eines subsidiär Schutzberechtigten zu entscheiden hat, nach Art. 267 AEUV zuständig, Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung auszulegen, wenn diese Vorschrift durch das nationale Recht für auf einen solchen Fall unmittelbar und unbedingt anwendbar erklärt worden ist.
2. Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2003/86 ist dahin auszulegen, dass er unter Umständen wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, in dem ein Antrag auf Familienzusammenführung von einer subsidiär schutzberechtigten Zusammenführenden für einen Minderjährigen gestellt wurde, dessen Tante sie ist und dessen Vormund sie zu sein behauptet und der als Flüchtling ohne familiäre Anbindung in einem Drittstaat lebt, dem entgegensteht, dass dieser Antrag allein deshalb abgelehnt wird, weil die Zusammenführende nicht die amtlichen Unterlagen zum Nachweis des Versterbens der biologischen Eltern des Minderjährigen vorgelegt und daher nicht die Tatsächlichkeit ihrer familiären Bindungen zu ihm belegt hat, und die Erklärung, die die Zusammenführende zum Nachweis ihres Unvermögens, diese Unterlagen beizubringen, vorgetragen hat, von den zuständigen Behörden allein aufgrund der allgemeinen zur Verfügung stehenden Informationen über die Lage im Herkunftsland für nicht plausibel befunden wurde, ohne die konkrete Situation der Zusammenführenden und des Minderjährigen sowie die besonderen Schwierigkeiten, mit denen sie ihrem Vortrag zufolge vor und nach der Flucht aus ihrem Herkunftsland konfrontiert waren, zu berücksichtigen.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Rechtbank Den Haag zittingsplaats Haarlem (Bezirksgericht Den Haag, Sitzungsort Haarlem, Niederlande) mit Entscheidung vom 14. November 2017, beim Gerichtshof eingegangen am gleichen Tag, in dem Verfahren
E.
gegen
Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev (Berichterstatter), des Richters T. von Danwitz, der Richterin M. Berger sowie der Richter C. Vajda und P. G. Xuereb,
Generalanwalt: N. Wahl,
Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 17. Oktober 2018,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von E., vertreten durch M. L. van Riel und C. J. Ullersma, advocaten,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und C. S. Schillemans als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Wils und C. Cattabriga als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 29. November 2018
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 2 Buchst. c und von Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. 2003, L 251, S. 12).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen E., einem Minderjährigen eritreischer Staatsangehörigkeit, der sich im Sudan aufhält, und dem Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie (Staatssekretär für Sicherheit und Justiz, Niederlande) (im Folgenden: Staatssekretär) wegen dessen Ablehnung des Antrags auf Familienzusammenführung, den Frau A., eine eritreische Staatsangehörige, die in den Niederlanden subsidiären Schutz genießt und behauptet, die Tante und der Vormund von E. zu sein, gestellt hat.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 2003/86
Rz. 3
Der achte Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/86 lautet:
„Der Lage von Flüchtlingen sollte wegen der Gründe, die sie zur Flucht gezwungen haben und sie daran hindern, ein normales Familienleben zu führen, besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Deshalb sollten günstigere Bedingungen für die Ausübung ihres Rechts auf Familienzusammenführung vorgesehen werden.”
Rz. 4
Art. 2 der Richtlinie 2003/86, der in deren Kapitel I („Allgemeine Bestimmungen”) enthalten ist, bestimmt:
„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet ...