Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren. Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf. Strafverfahren wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis. Fahrverbot, das mit einem früheren Strafbefehl angeordnet wurde, von dem der Betroffene keine Kenntnis erlangt hat. Zustellung des Strafbefehls an den Betroffenen nur über einen obligatorischen Bevollmächtigten. Eintritt der Rechtskraft. Etwaige Fahrlässigkeit des Betroffenen
Normenkette
Richtlinie 2012/13/EU Art. 6
Beteiligte
Staatsanwaltschaft Offenburg |
Tenor
Art. 6 der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren ist dahin auszulegen,
- dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, nach der die Frist von zwei Wochen für die Einlegung eines Einspruchs gegen einen ein Fahrverbot gegen eine Person anordnenden Strafbefehl mit dessen Zustellung an den Bevollmächtigten dieser Person zu laufen beginnt, sofern diese Person ab ihrer Kenntnisnahme von dem Strafbefehl tatsächlich über eine Frist von zwei Wochen verfügt, um dagegen Einspruch einzulegen, gegebenenfalls im Anschluss an ein Verfahren zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand oder in dessen Rahmen, ohne dartun zu müssen, dass sie die erforderlichen Schritte unternommen hat, um sich zeitnah bei ihrem Bevollmächtigten über die Existenz dieses Strafbefehls zu erkundigen, und sofern dessen Wirkungen während dieser Frist ausgesetzt sind,
- dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der sich eine in einem anderen Mitgliedstaat wohnende Person, wenn sie einen Strafbefehl, mit dem ein Fahrverbot gegen sie angeordnet wird, nicht ab dem Zeitpunkt, zu dem dieser Strafbefehl rechtskräftig geworden ist, beachtet, einer strafrechtlichen Sanktion aussetzt, obwohl diese Person keine Kenntnis von der Existenz des Strafbefehls hatte, als sie gegen das mit ihm angeordnete Fahrverbot verstoßen hat.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Amtsgericht Kehl (Deutschland) mit Entscheidung vom 24. September 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 28. September 2018, in dem Strafverfahren gegen
UY,
Beteiligte:
Staatsanwaltschaft Offenburg,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan sowie der Richter I. Jarukaitis, E. Juhász, M. Ilešič und C. Lycourgos (Berichterstatter),
Generalanwalt: M. Bobek,
Kanzler: D. Dittert, Referatsleiter,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 16. Oktober 2019,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der deutschen Regierung, vertreten durch M. Hellmann, T. Henze und A. Berg als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid, R. Troosters und B.-R. Killmann als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16. Januar 2020
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren (ABl. 2012, L 142, S. 1) sowie der Art. 21, 45, 49 und 56 AEUV.
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines in Deutschland gegen UY eingeleiteten Strafverfahrens wegen fahrlässigen Fahrens ohne Fahrerlaubnis.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Die Erwägungsgründe 14, 27 und 41 der Richtlinie 2012/13 lauten:
„(14) Die vorliegende Richtlinie bezieht sich auf die Maßnahme B [(Maßnahme bezüglich des Rechts auf Belehrung über die Rechte und auf Unterrichtung über die Beschuldigung)] des Fahrplans [zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigten oder Beschuldigten in Strafverfahren]. Sie legt gemeinsame Mindestnormen fest, die bei der Belehrung über die Rechte und bei der Unterrichtung über den Tatvorwurf gegenüber Personen, die der Begehung einer Straftat verdächtigt oder beschuldigt werden, anzuwenden sind, um das Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten zu verstärken. Diese Richtlinie baut auf den in der [Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta)] verankerten Rechten auf, insbesondere auf den Artikeln 6, 47 und 48 der Charta, und legt dabei die Artikel 5 und 6 [der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK)] in der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zugrunde. In dieser Richtlinie wird der Begriff ‚Tatvorwurf’ verwendet; er hat denselben Bedeutungsinhalt wie der in Artikel 6 Absatz 1 EMRK verwendete Begriff ‚Anklage’.
…
(27) Personen, die der Begehung einer Straftat beschuldigt werden, sollten alle Informationen über den Tatvorwurf erteilt werden, die sie benötigen, um ihre Verteidigung vorzubereiten, und die zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens notwend...