Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren. Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf. Zustellung eines Strafbefehls. Modalitäten. Pflicht zur Benennung eines Zustellungsbevollmächtigten. Beschuldigter ohne festen Wohnsitz oder Aufenthalt. Einspruchsfrist, die ab Zustellung an den Bevollmächtigen läuft
Normenkette
Richtlinie 2012/13/EU
Beteiligte
Tenor
Art. 2, Art. 3 Abs. 1 Buchst. c und Art. 6 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren sind dahin auszulegen, dass sie Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie denen der Ausgangsverfahren nicht entgegenstehen, die im Rahmen eines Strafverfahrens vorsehen, dass ein Beschuldigter, der in diesem Mitgliedstaat keinen festen Aufenthalt hat und weder dort noch in seinem Herkunftsmitgliedstaat einen festen Wohnsitz hat, für die Zustellung eines an ihn gerichteten Strafbefehls einen Zustellungsbevollmächtigten zu benennen hat und dass die Frist für einen Einspruch gegen den Strafbefehl – bevor dieser vollstreckbar wird – ab der Zustellung des Strafbefehls an diesen Bevollmächtigten läuft.
Art. 6 der Richtlinie 2012/13 verlangt jedoch, dass bei der Vollstreckung des Strafbefehls die betroffene Person, sobald sie von dem Strafbefehl tatsächlich Kenntnis erlangt hat, in die gleiche Lage versetzt wird, als sei ihr der Strafbefehl persönlich zugestellt worden, und insbesondere über die volle Einspruchsfrist verfügt, gegebenenfalls durch ihre Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.
Es obliegt dem vorlegenden Gericht, darauf zu achten, dass das nationale Verfahren der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und die Voraussetzungen für die Durchführung eines solchen Verfahrens im Einklang mit diesen Anforderungen angewandt werden und dass dieses Verfahren somit die wirksame Ausübung der Rechte nach Art. 6 der Richtlinie 2012/13 ermöglicht.
Tatbestand
In den verbundenen Rechtssachen
betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Amtsgericht München mit Entscheidungen vom 19. Februar 2016 (C-124/16) und vom 12. April 2016 (C-213/16), die am 29. Februar bzw. am 18. April 2016 beim Gerichtshof eingegangen sind, und vom Landgericht München I mit Entscheidung vom 23. März 2016 (C-188/16), die am 4. April 2016 beim Gerichtshof eingegangen ist, in den Strafverfahren gegen
Ianos Tranca (C-124/16),
Tanja Reiter (C-213/16)
und
Ionel Opria (C-188/16),
Beteiligte:
Staatsanwaltschaft München I,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. L. da Cruz Vilaça, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs A. Tizzano (Berichterstatter), der Richterin M. Berger sowie der Richter A. Borg Barthet und F. Biltgen,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Staatsanwaltschaft München I, vertreten durch H. Kornprobst als Bevollmächtigten,
- der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und M. Hellmann als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Troosters und S. Grünheid als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 2, Art. 3 Abs. 1 Buchst. c und Art. 6 Abs. 1 und 3 der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren (ABl. 2012, L 142, S. 1).
Rz. 2
Sie ergehen im Rahmen von Strafverfahren, die gegen Herrn Ianos Tranca und Herrn Ionel Opria wegen Diebstahls sowie gegen Frau Tanja Reiter wegen Körperverletzung und Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte eingeleitet wurden.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Der Anwendungsbereich der Richtlinie 2012/13 wird in deren Art. 2 Abs. 1 wie folgt eingegrenzt:
„Diese Richtlinie gilt ab dem Zeitpunkt, zu dem Personen von den zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats davon in Kenntnis gesetzt werden, dass sie der Begehung einer Straftat verdächtig oder beschuldigt sind, bis zum Abschluss des Verfahrens, worunter die endgültige Klärung der Frage zu verstehen ist, ob der Verdächtige oder die beschuldigte Person die Straftat begangen hat, gegebenenfalls einschließlich der Festlegung des Strafmaßes und der abschließenden Entscheidung in einem Rechtsmittelverfahren.”
Rz. 4
Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie regelt das Recht auf Rechtsbelehrung wie folgt:
„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen umgehend mindestens über folgende Verfahrensrechte in ihrer Ausgestaltung nach dem innerstaatlichen Recht belehrt werden, um die wirksame Ausübung dieser Rechte zu ermöglichen:
…
c) das Recht auf Unterrichtung über den Tatvorw...