Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorlage zur Vorabentscheidung. Grundsatz ne bis in idem. Wegen unlauterer Geschäftspraktiken verhängte Sanktionen. Strafrechtliche Natur der Sanktion. Strafrechtliche Sanktion, die in einem Mitgliedstaat nach dem Erlass einer Sanktion wegen unlauterer Geschäftspraktiken in einem anderen Mitgliedstaat verhängt wurde, aber vor dieser Sanktion rechtskräftig geworden ist. Einschränkungen des Grundsatzes ne bis in idem. Voraussetzungen. Koordinierung der Verfahren und Sanktionen

 

Normenkette

Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 50, 52 Abs. 1

 

Beteiligte

Volkswagen Group Italia und Volkswagen Aktiengesellschaft

Volkswagen Group Italia SpA

Volkswagen Aktiengesellschaft

Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato

 

Tenor

1.Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass eine in den nationalen Rechtsvorschriften vorgesehene Verwaltungsgeldbuße, die von der für den Verbraucherschutz zuständigen nationalen Behörde gegen eine Gesellschaft wegen unlauterer Geschäftspraktiken verhängt wird, eine strafrechtliche Sanktion im Sinne dieser Bestimmung darstellt, obwohl sie in den nationalen Rechtsvorschriften als Verwaltungssanktion eingestuft wird, wenn sie eine repressive Zielsetzung verfolgt und einen hohen Schweregrad aufweist.

2.Der in Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerte Grundsatzne bis in idemist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die es erlaubt, eine gegen eine juristische Person wegen unlauterer Geschäftspraktiken verhängte Geldbuße strafrechtlicher Natur aufrechtzuerhalten, wenn diese Person wegen derselben Tat in einem anderen Mitgliedstaat strafrechtlich verurteilt worden ist, auch wenn diese Verurteilung nach dem Erlass der Entscheidung, mit der die Geldbuße verhängt wurde, erfolgt ist, aber rechtskräftig geworden ist, bevor über den gerichtlichen Rechtsbehelf gegen diese Entscheidung rechtskräftig geurteilt worden ist.

3.Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er eine Einschränkung der Anwendung des in Art. 50 der Charta verankerten Grundsatzesne bis in idemzulässt, um eine Kumulierung von Verfahren oder Sanktionen wegen derselben Tat zu ermöglichen, sofern die in Art. 52 Abs. 1 der Charta vorgesehenen Voraussetzungen, wie sie von der Rechtsprechung näher bestimmt wurden, erfüllt sind, nämlich erstens, dass diese Kumulierung keine übermäßige Belastung für die betreffende Person darstellt, zweitens, dass es klare und präzise Regeln gibt, anhand deren sich vorhersehen lässt, bei welchen Handlungen und Unterlassungen eine Kumulierung in Frage kommt, und drittens, dass die betreffenden Verfahren in hinreichend koordinierter Weise und in einem engen zeitlichen Zusammenhang geführt wurden.

 

Tatbestand

In der Rechtssache C-27/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien) mit Entscheidung vom 7. Januar 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 11. Januar 2022, in dem Verfahren

Volkswagen Group Italia SpA,

Volkswagen Aktiengesellschaft

gegen

Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato,

Beteiligte:

Associazione Cittadinanza Attiva Onlus,

Coordinamento delle associazioni per la tutela dell’ambiente e dei diritti degli utenti e consumatori (Codacons),

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Richter P. G. Xuereb (Berichterstatter), T. von Danwitz und A. Kumin sowie der Richterin I. Ziemele,

Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,

Kanzler: C. Di Bella, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 19. Januar 2023,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • –        der Volkswagen Group Italia SpA und der Volkswagen Aktiengesellschaft, vertreten durch T. Salonico, Avvocato, und O. W. Brouwer, Advocaat,
  • –        der Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato, vertreten durch F. Sclafani, Avvocato dello Stato,
  • –        des Coordinamento delle associazioni per la tutela dell’ambiente e dei diritti degli utenti e consumatori (Codacons), vertreten durch G. Giuliano und C. Rienzi, Avvocati,
  • –        der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von P. Gentili, Avvocato dello Stato,
  • –        der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman, M. A. M. de Ree und J. M. Hoogveld als Bevollmächtigte,
  • –        der Europäischen Kommission, vertreten durch N. Ruiz García und A. Spina als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 30. März 2023

folgendes

Urteil

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), von Art. 54 des am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichneten und am 26. März 1995 in Kraft getretenen Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 1...

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