Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Grundsatz ne bis in idem. Rechtskräftige Einstellung eines ersten Verfahrens, das wegen Verstoßes gegen eine Bestimmung des nationalen Glücksspielrechts eingeleitet wurde. Verwaltungsstrafe, die wegen eines auf demselben Sachverhalt beruhenden Verstoßes gegen eine andere Bestimmung dieses Rechts verhängt wurde. Einstellung des ersten Verfahrens wegen einer falschen rechtlichen Einordnung des begangenen Verstoßes
Normenkette
Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 50
Beteiligte
Bezirkshauptmannschaft Feldkirch |
Bezirkshauptmannschaft Feldkirch |
Tenor
Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist mit dem darin niedergelegten Grundsatzne bis in idemdahin auszulegen, dass er der Verhängung einer Strafe gegen eine Person wegen Verstoßes gegen eine Bestimmung einer nationalen Regelung, die geeignet ist, die Ausübung der Dienstleistungsfreiheit im Sinne von Art. 56 AEUV zu behindern, entgegensteht, wenn gegen diese Person bereits eine nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit Beweisaufnahme erlassene und rechtskräftig gewordene gerichtliche Entscheidung ergangen ist, mit der sie vom Verstoß gegen eine andere Bestimmung dieser Regelung wegen desselben Sachverhalts freigesprochen wurde.
Tatbestand
In der Rechtssache C-55/22
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landesverwaltungsgericht Vorarlberg (Österreich) mit Beschluss vom 18. Januar 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 28. Januar 2022, in dem Verfahren
NK
gegen
Bezirkshauptmannschaft Feldkirch
erlässt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten P. G. Xuereb (Berichterstatter), des Richters A. Kumin und der Richterin I. Ziemele,
Generalanwalt: A. M. Collins,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – der österreichischen Regierung, vertreten durch J. Schmoll und C. Leeb als Bevollmächtigte,
- – der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid und M. Wasmeier als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen NK und der Bezirkshauptmannschaft Feldkirch (Österreich) wegen Verwaltungsstrafen, die diese gegen NK wegen Verstößen gegen das österreichische Glücksspielrecht verhängt hat.
Rechtlicher Rahmen
Rz. 3
§ 2 („Ausspielungen“) des Glücksspielgesetzes vom 21. Dezember 1989 (BGBl. 620/1989) in der im Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: GSpG) bestimmt:
„(1) Ausspielungen sind Glücksspiele,
1. die ein Unternehmer veranstaltet, organisiert, anbietet oder zugänglich macht und
2. bei denen Spieler oder andere eine vermögenswerte Leistung in Zusammenhang mit der Teilnahme am Glücksspiel erbringen (Einsatz) und
3. bei denen vom Unternehmer, von Spielern oder von anderen eine vermögenswerte Leistung in Aussicht gestellt wird (Gewinn).
(2) Unternehmer ist, wer selbstständig eine nachhaltige Tätigkeit zur Erzielung von Einnahmen aus der Durchführung von Glücksspielen ausübt, mag sie auch nicht auf Gewinn gerichtet sein.
Wenn von unterschiedlichen Personen in Absprache miteinander Teilleistungen zur Durchführung von Glücksspielen mit vermögenswerten Leistungen im Sinne der Z 2 und 3 des Abs. 1 an einem Ort angeboten werden, so liegt auch dann Unternehmereigenschaft aller an der Durchführung des Glücksspiels unmittelbar beteiligten Personen vor, wenn bei einzelnen von ihnen die Einnahmenerzielungsabsicht fehlt oder sie an der Veranstaltung, Organisation oder dem Angebot des Glücksspiels nur beteiligt sind.
…
(4) Verbotene Ausspielungen sind Ausspielungen, für die eine Konzession oder Bewilligung nach diesem Bundesgesetz nicht erteilt wurde und die nicht vom Glücksspielmonopol des Bundes gemäß § 4 ausgenommen sind.“
Rz. 4
§ 52 („Verwaltungsstrafbestimmungen“) GSpG sieht vor:
„(1) Es begeht eine Verwaltungsübertretung und ist von der Behörde … mit einer Geldstrafe von bis zu 60 000 Euro … zu bestrafen,
1. wer zur Teilnahme vom Inland aus verbotene Ausspielungen im Sinne des § 2 Abs. 4 veranstaltet, organisiert oder unternehmerisch zugänglich macht oder sich als Unternehmer im Sinne des § 2 Abs. 2 daran beteiligt;
…
(2) Bei Übertretung des Abs. 1 Z 1 mit bis zu drei Glücksspielautomaten oder anderen Eingriffsgegenständen ist für jeden Glücksspielautomaten oder anderen Eingriffsgegenstand eine Geldstrafe in der Höhe von 1 000 Euro bis zu 10 000 Euro, im Falle der erstmaligen und weiteren Wiederholung von 3 000 Euro bis zu 30 000 Euro, bei Übertretung mit mehr als drei Glücksspielautomaten oder an...