Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Unionsrecht. Dem Einzelnen verliehene Rechte. Verletzung durch ein Gericht. Zur Vorabentscheidung vorgelegte Fragen. Anrufung des Gerichtshofs. Letztinstanzliches einzelstaatliches Gericht
Beteiligte
Tenor
1. Art. 267 Abs. 3 AEUV ist dahin auszulegen, dass ein Gericht, dessen Entscheidungen mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, nicht als letztinstanzliches Gericht angesehen werden kann, wenn die Kassationsbeschwerde gegen eine Entscheidung dieses Gerichts nicht geprüft wurde, weil der Beschwerdeführer sie zurückgenommen hat.
2. Die zweite Frage ist nicht zu beantworten.
3. Art. 267 Abs. 3 AEUV ist dahin auszulegen, dass ein letztinstanzliches Gericht davon absehen kann, dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, wenn eine Kassationsbeschwerde aus Unzulässigkeitsgründen zurückgewiesen wird, die dem Verfahren vor diesem Gericht eigen sind, sofern die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität gewahrt bleiben.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Hof van beroep te Brussel (Appellationshof Brüssel, Belgien) mit Entscheidung vom 23. Dezember 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 4. Januar 2016, in dem Verfahren
Lucio Cesare Aquino
gegen
Belgische Staat
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) sowie der Richter J.-C. Bonichot, A. Arabadjiev, C. G. Fernlund und S. Rodin,
Generalanwalt: H. Saugmandsgaard Øe,
Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 23. November 2016,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Lucio Cesare Aquino, vertreten durch M. Verwilghen und H. Vandenberghe, advocaten,
- der belgischen Regierung, vertreten durch C. Pochet und M. Jacobs als Bevollmächtigte im Beistand von E. Matterne, D. Lindemans und F. Judo, advocaten,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch J.-P. Keppenne und H. Kranenborg als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 267 Abs. 3 AEUV sowie von Art. 47 Abs. 2 und Art. 52 Abs. 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Lucio Cesare Aquino und dem Belgische Staat (Belgischer Staat), in dem ein Anspruch aus außervertraglicher Haftung geltend gemacht wird.
Rechtlicher Rahmen
Rz. 3
In Art. 18 des Koninklijk besluit tot vaststelling van de cassatie-procedure bij de Raad van State (Königlicher Erlass zur Festlegung des Kassationsverfahrens vor dem Staatsrat) vom 30. November 2006 (Belgisch Staatsblad, 1. Dezember 2006, S. 66844) heißt es:
„§ 1 – Wenn der Auditor auf Unzulässigkeit oder Abweisung der Beschwerde schließt, wird der Bericht vom Chefgreffier der klagenden Partei notifiziert, die über dreißig Tage verfügt, um die Fortsetzung des Verfahrens im Hinblick auf ihre Anhörung zu beantragen.
Wenn die klagende Partei nicht um Anhörung ersucht, übermittelt der Chefgreffier die Akte der Kammer, damit diese die Verfahrensrücknahme … ausspricht. Der Bericht des Auditors wird den Parteien, die ihn noch nicht erhalten haben, zusammen mit dem Entscheid notifiziert.
Ersucht die klagende Partei um Anhörung, legt der Staatsrat per Beschluss das Datum fest, an dem die Parteien erscheinen müssen.
Wenn der Chefgreffier der klagenden Partei den Bericht, in dem auf Unzulässigkeit oder Abweisung der Beschwerde geschlossen wird, notifiziert, vermerkt er den Wortlaut des vorliegenden Paragraphen.
§ 2 – Wenn der Auditor nicht auf Unzulässigkeit oder Abweisung der Beschwerde schließt, beraumt der Kammerpräsident beziehungsweise der von ihm bestimmte Staatsrat per Beschluss sofort eine Sitzung zur Behandlung der Beschwerde an.”
Rz. 4
Art. 21 Abs. 7 der Gecoördineerde wetten op de Raad van State (Koordinierte Gesetze über den Staatsrat) vom 12. Januar 1973 (Belgisch Staatsblad, 21. März 1973, S. 3461) in der für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Fassung, der sowohl auf Nichtigkeitsklagen als auch auf Kassationsbeschwerden gegen Entscheidungen der Verwaltungsgerichte anwendbar ist, bestimmt:
„Hinsichtlich der klagenden Partei gilt eine Vermutung der Verfahrensrücknahme, wenn die Partei innerhalb einer Frist von dreißig Tagen ab Notifizierung des Berichts des Auditors beziehungsweise der Mitteilung über die Anwendung von Artikel 30 § 1 Absatz 3, worin Abweisung oder Unzulässigkeit der Beschwerde vorgeschlagen werden, nicht die Fortsetzung des Verfahrens beantragt.”
Rz. 5
Art. 39/60 Abs. 2 der Wet betreffende de toegang tot het grondgebied, het verblijf, de vestiging en de verwijdering van vreemdelingen (Gesetz über die Einreise ins Staatsgebiet, den Au...