Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Soziale Sicherheit. Begriff ,Leistungen bei Krankheit‘. Geltungsbereich. Soziale Vergünstigungen. Unterschiedliche Behandlung. Rechtfertigungsgründe. Covid-19. Von der nationalen Gesundheitsbehörde angeordnete Absonderung von Arbeitnehmern. Vergütung dieser Arbeitnehmer durch den Arbeitgeber. Erstattung an den Arbeitgeber durch die zuständige Behörde. Ausschluss von Grenzgängern, die aufgrund einer von der Behörde ihres Wohnsitzstaats getroffenen Maßnahme in Quarantäne sind
Normenkette
Verordnung (EG) Nr. 883/2004 Art. 3 Abs. 1 Buchst. a; AEUV Art. 45; Verordnung (EU) Nr. 492/2011 Art. 7 Abs. 2
Beteiligte
Thermalhotel Fontana Hotelbetriebsgesellschaft m.b.H. |
Bezirkshauptmannschaft Südoststeiermark |
Tenor
1.Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit
ist dahin auszulegen, dass
die staatlich finanzierte Vergütung, die Arbeitnehmern für die durch die Behinderung ihres Erwerbs entstandenen Vermögensnachteile während ihrer Absonderung als an Covid-19 erkrankte, krankheitsverdächtige oder ansteckungsverdächtige Personen gewährt wird, keine „Leistung bei Krankheit“ im Sinne dieser Bestimmung darstellt und daher nicht in den Geltungsbereich dieser Verordnung fällt.
2.Art. 45 AEUV und Art. 7 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union
sind dahin auszulegen, dass
sie einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, nach der die Gewährung einer Vergütung für den Verdienstentgang, der den Arbeitnehmern aufgrund einer wegen eines positiven Covid-19-Testergebnisses verfügten Absonderung entsteht, davon abhängt, dass die Anordnung der Absonderungsmaßnahme durch eine Behörde dieses Mitgliedstaats aufgrund dieser Regelung verfügt wird.
Tatbestand
In der Rechtssache C-411/22
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgerichtshof (Österreich) mit Entscheidung vom 24. Mai 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 21. Juni 2022, in dem Verfahren
Thermalhotel Fontana Hotelbetriebsgesellschaft m.b.H.,
Beteiligte:
Bezirkshauptmannschaft Südoststeiermark,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin M. L. Arastey Sahún sowie der Richter F. Biltgen (Berichterstatter) und J. Passer,
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – der Thermalhotel Fontana Hotelbetriebsgesellschaft m.b.H., vertreten durch Rechtsanwältin T. Katalan,
- – der österreichischen Regierung, vertreten durch A. Posch, J. Schmoll und F. Werni als Bevollmächtigte,
- – der tschechischen Regierung, vertreten durch O. Serdula, M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
- – der finnischen Regierung, vertreten durch M. Pere als Bevollmächtigte,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch B.-R. Killmann und D. Martin als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2004, L 166, S. 1, berichtigt in ABl. 2004, L 200, S. 1) sowie des Art. 45 AEUV und des Art. 7 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (ABl. 2011, L 141, S. 1).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Thermalhotel Fontana Hotelbetriebsgesellschaft m.b.H. (im Folgenden: T GmbH) und der Bezirkshauptmannschaft Südoststeiermark (Österreich, im Folgenden: Verwaltungsbehörde) wegen der Weigerung Letzterer, der T GmbH eine Vergütung für den Verdienstentgang zu leisten, der ihren Arbeitnehmern während der Zeiträume der Quarantäne an ihren jeweiligen Wohnsitzen in Slowenien und Ungarn entstanden ist, die von den zuständigen Behörden dieser Mitgliedstaaten im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie angeordnet worden waren.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Verordnung Nr. 883/2004
Rz. 3
Art. 3 („Sachlicher Geltungsbereich“) der Verordnung Nr. 883/2004 sieht in Abs. 1 vor:
„Diese Verordnung gilt für alle Rechtsvorschriften, die folgende Zweige der sozialen Sicherheit betreffen:
a) Leistungen bei Krankheit;
…“
Rz. 4
Art. 5 dieser Verordnung bestimmt:
„Sofern in dieser Verordnung nicht[s] anderes bestimmt ist, gilt unter Berücksichtigung der besonderen Durchführungsbestimmungen Folgendes:
…
b) Hat nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats der Eintritt bestimmter Sachverhalte oder Ereignisse Rechtswirkungen, so berücksichtigt di...