Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit. Bestimmung der anwendbaren Rechtsvorschriften. Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit. Rechtsanwalt mit Mittelpunkt der privaten und beruflichen Tätigkeiten in der Schweiz, der seinen Beruf noch in zwei weiteren Mitgliedstaaten ausübt. Antrag auf Gewährung einer vorzeitigen Altersrente. Nationale Regelung, nach der der Betroffene im betreffenden Mitgliedstaat und im Ausland auf die Ausübung dieses Berufs verzichten muss
Normenkette
Verordnung (EG) Nr. 883/2004 Art. 1 Abs. 2, Art. 13; Verordnung (EG) Nr. 883/2004 Anhang II
Beteiligte
Tenor
1. Die Kollisionsnormen des Art. 13 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit sind nicht anwendbar, wenn in einem Fall, in dem sich der Wohnsitz und der Mittelpunkt der Tätigkeiten einer Person in einem Mitgliedstaat befinden, während diese Person auch eine Tätigkeit ausübt, die sich ungleichmäßig auf zwei andere Mitgliedstaaten verteilt, festgestellt werden soll, ob diese Person gegenüber den Trägern eines dieser beiden anderen Mitgliedstaaten unmittelbare Ansprüche aufgrund von Beiträgen hat, die in einem bestimmten Zeitraum entrichtet wurden.
2. Art. 45 und 49 AEUV sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die die Gewährung einer vorzeitigen Altersrente davon abhängig macht, dass der Betroffene auf die Ausübung der Rechtsanwaltschaft verzichtet, ohne insbesondere den Mitgliedstaat zu berücksichtigen, in dem die betreffende Tätigkeit ausgeübt wird.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgericht Wien (Österreich) mit Entscheidung vom 21. Januar 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 1. Februar 2021, in dem Verfahren
FK,
Beteiligte:
Rechtsanwaltskammer Wien,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. Passer sowie des Richters F. Biltgen (Berichterstatter) und der Richterin M. L. Arastey Sahún,
Generalanwalt: J. Richard de la Tour,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von FK, vertreten durch Rechtsanwalt W. Polster,
- der österreichischen Regierung, vertreten durch A. Posch und E. Samoilova als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch B.-R. Killmann und D. Martin als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 13 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2004, L 166, S. 1, berichtigt in ABl. 2004, L 200, S. 1).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen FK und der Rechtsanwaltskammer Wien (Österreich) wegen der Abweisung des Antrags von FK auf Gewährung einer vorzeitigen Altersrente.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Verordnung Nr. 883/2004
Rz. 3
Art. 1 („Definitionen”) der Verordnung Nr. 883/2004 bestimmt:
„Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck:
…
x) ‚Vorruhestandsleistungen’ alle anderen Geldleistungen als Leistungen bei Arbeitslosigkeit und vorgezogene Leistungen wegen Alters, die ab einem bestimmten Lebensalter Arbeitnehmern, die ihre berufliche Tätigkeit eingeschränkt oder beendet haben oder ihr vorübergehend nicht mehr nachgehen, bis zu dem Lebensalter gewährt werden, in dem sie Anspruch auf Altersrente oder auf vorzeitiges Altersruhegeld geltend machen können, und deren Bezug nicht davon abhängig ist, dass sie der Arbeitsverwaltung des zuständigen Staates zur Verfügung stehen; eine ‚vorgezogene Leistung wegen Alters’ ist eine Leistung, die vor dem Erreichen des Lebensalters, ab dem üblicherweise Anspruch auf Rente entsteht, gewährt und nach Erreichen dieses Lebensalters weiterhin gewährt oder durch eine andere Leistung bei Alter abgelöst wird;
…”
Rz. 4
In Art. 3 („Sachlicher Geltungsbereich”) der Verordnung Nr. 883/2004 heißt es:
„(1) Diese Verordnung gilt für alle Rechtsvorschriften, die folgende Zweige der sozialen Sicherheit betreffen:
…
d) Leistungen bei Alter;
…
i) Vorruhestandsleistungen;
…”
Rz. 5
In Art. 11 Abs. 1 und Abs. 3 Buchst. a der Verordnung Nr. 883/2004 heißt es:
„(1) Personen, für die diese Verordnung gilt, unterliegen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Welche Rechtsvorschriften dies sind, bestimmt sich nach diesem Titel.
…
(3) Vorbehaltlich der Artikel 12 bis 16 gilt Folgendes:
a) eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder selbstständige Erwerbstätigkeit ausübt, unterliegt den Rechtsvorschriften di...