Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Freizügigkeit der Arbeitnehmer. Gleichbehandlung. Soziale Vergünstigungen. Kindergeld. Arbeitnehmer, der für ein bei ihm durch gerichtliche Entscheidung untergebrachtes Kind das Sorgerecht wahrnimmt. Gebietsansässiger und gebietsfremder Arbeitnehmer. Unterschiedliche Behandlung. Kein Rechtfertigungsgrund
Normenkette
AEUV Art. 45; Verordnung (EU) Nr. 492/2011 Art. 7 Abs. 2
Beteiligte
Caisse pour l’avenir des enfants |
Tenor
Art. 45 AEUV und Art. 7 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union
sind dahin auszulegen, dass
sie Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats entgegenstehen, wonach ein gebietsfremder Arbeitnehmer ein an die Ausübung einer unselbständigen Erwerbstätigkeit in diesem Mitgliedstaat geknüpftes Kindergeld für ein Kind, das bei ihm durch gerichtliche Entscheidung untergebracht wurde und für das er das Sorgerecht wahrnimmt, nicht beziehen kann, während ein Kind, das durch gerichtliche Entscheidung fremduntergebracht wurde und in diesem Mitgliedstaat wohnt, Anspruch auf dieses Kindergeld hat, das an die natürliche oder juristische Person ausgezahlt wird, die das Sorgerecht für das Kind innehat. Der Umstand, dass der gebietsfremde Arbeitnehmer für den Unterhalt des bei ihm untergebrachten Kindes aufkommt, kann im Rahmen der Gewährung eines Kindergelds an einen solchen Arbeitnehmer für ein in seinem Haushalt untergebrachtes Kind nur dann berücksichtigt werden, wenn die anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften eine solche Voraussetzung für die Gewährung dieses Kindergelds an einen gebietsansässigen Arbeitnehmer, der das Sorgerecht für ein in seinem Haushalt untergebrachtes Kind innehat, vorsehen.
Tatbestand
In der Rechtssache C-27/23 [Hocinx](
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof, Luxemburg) mit Entscheidung vom 19. Januar 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 23. Januar 2023, in dem Verfahren
FV
gegen
Caisse pour l’avenir des enfants
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe, des Präsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der dritten Kammer sowie der Richter N. Piçarra, N. Jääskinen (Berichterstatter) und M. Gavalec,
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – von FV, vertreten durch J.-M. Bauler, Avocat,
- – der Caisse pour l’avenir des enfants, vertreten durch A. Rodesch und B. Rodesch, Avocats,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Clotuche-Duvieusart und B.-R. Killmann als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 25. Januar 2024
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 45 AEUV, von Art. 7 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (ABl. 2011, L 141, S. 1), von Art. 67 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2004, L 166, S. 1, berichtigt in ABl. 2004, L 200, S. 1) sowie von Art. 60 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2009, L 284, S. 1).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Grenzgänger FV und der Caisse pour l’avenir des enfants (Zukunftskasse, Luxemburg) (im Folgenden: CAE) wegen deren Weigerung, für ein durch gerichtliche Entscheidung im Haushalt von FV untergebrachtes Kind Kindergeld zu gewähren.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Verordnung (EU) 2019/1111
Rz. 3
Gemäß Art. 1 Abs. 2 Buchst. d der Verordnung (EU) 2019/1111 des Rates vom 25. Juni 2019 über die Zuständigkeit, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und über internationale Kindesentführungen (ABl. 2019, L 178, S. 1) gilt diese Verordnung für „die Heim- oder Pflegeunterbringung eines Kindes“.
Rz. 4
Art. 30 Abs. 1 der Verordnung 2019/1111 lautet:
„Die in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen werden in den anderen Mitgliedstaaten anerkannt, ohne dass es hierfür eines besonderen Verfahrens bedarf.“
Verordnung Nr. 492/2011
Rz. 5
Art. 7 der Verordnung Nr. 492/2011 sieht vor:
„(1) Ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, darf aufgrund seiner Staatsangehörigkeit im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten hinsichtlich der Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen, insbesondere im Hinblick auf Entlohnung, Kündigung und, fa...