Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Mehrwertsteuer. Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union. Übereinkommen über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften. Strafverfahren wegen Mehrwertsteuerstraftaten. Effektivitätsgrundsatz. Beweiswürdigung. Telefonüberwachung. Anordnung durch ein unzuständiges Gericht. Berücksichtigung der Telefonüberwachung als Beweismittel. Nationale Regelung. Verbot
Normenkette
AEUV Art. 325 Abs. 1
Beteiligte
Tenor
Art. 325 Abs. 1 AEUV sowie Art. 1 Abs. 1 Buchst. b und Art. 2 Abs. 1 des am 26. Juli 1995 in Luxemburg unterzeichneten Übereinkommens aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften sind im Licht der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass sie nicht – im Hinblick auf den Grundsatz der Wirksamkeit der Strafverfolgung wegen Mehrwertsteuerstraftaten – der Anwendung einer nationalen Regelung durch das nationale Gericht entgegenstehen, wonach Beweismittel wie Telefonüberwachungen, die einer vorherigen richterlichen Anordnung bedürfen, in einem Strafverfahren nicht verwertet werden dürfen, wenn diese Anordnung von einem unzuständigen Gericht erlassen wurde, selbst wenn nur diese Beweismittel geeignet sind, die Begehung der betreffenden Straftaten zu beweisen.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien) mit Entscheidung vom 25. Mai 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 31. Mai 2016, in dem Strafverfahren gegen
Petar Dzivev,
Galina Angelova,
Georgi Dimov,
Milko Velkov
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten der Siebten Kammer T. von Danwitz (Berichterstatter) in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Vierten Kammer, der Richterin K. Jürimäe sowie der Richter C. Lycourgos, E. Juhász und C. Vajda,
Generalanwalt: M. Bobek,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Troosters, J. Baquero Cruz und P. Mihaylova als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 25. Juli 2018
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 325 Abs. 1 AEUV, von Art. 1 Abs. 1 Buchst. b und Art. 2 Abs. 1 des am 26. Juli 1995 in Luxemburg unterzeichneten Übereinkommens aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (ABl. 1995, C 316, S. 48, im Folgenden: SFI-Übereinkommen) sowie von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen Herrn Petar Dzivev, Frau Galina Angelova, Herrn Georgi Dimov und Herrn Milko Velkov, die beschuldigt werden, Mehrwertsteuerstraftaten begangen zu haben.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
In Art. 325 AEUV heißt es:
„(1) Die Union und die Mitgliedstaaten bekämpfen Betrügereien und sonstige gegen die finanziellen Interessen der Union gerichtete rechtswidrige Handlungen mit Maßnahmen nach diesem Artikel, die abschreckend sind und in den Mitgliedstaaten sowie in den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union einen effektiven Schutz bewirken.
(2) Zur Bekämpfung von Betrügereien, die sich gegen die finanziellen Interessen der Union richten, ergreifen die Mitgliedstaaten die gleichen Maßnahmen, die sie auch zur Bekämpfung von Betrügereien ergreifen, die sich gegen ihre eigenen finanziellen Interessen richten.
…”
SFI-Übereinkommen
Rz. 4
In Art. 1 des SFI-Übereinkommens heißt es:
„(1) Für die Zwecke dieses Übereinkommens umfasst der Tatbestand des Betrugs zum Nachteil der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften
…
b) im Zusammenhang mit Einnahmen jede vorsätzliche Handlung oder Unterlassung betreffend
- die Verwendung oder Vorlage falscher, unrichtiger oder unvollständiger Erklärungen oder Unterlagen mit der Folge, dass Mittel aus dem Gesamthaushaltsplan der Europäischen Gemeinschaften oder aus den Haushalten, die von den Europäischen Gemeinschaften oder in deren Auftrag verwaltet werden, rechtswidrig vermindert werden;
- dem Verschweigen einer Information unter Verletzung einer spezifischen Pflicht mit derselben Folge;
- die missbräuchliche Verwendung eines rechtmäßig erlangten Vorteils mit derselben Folge.
(2) Vorbehaltlich des Artikels 2 Absatz 2 trifft jeder Mitgliedstaat die erforderlichen und geeigneten Maßnahmen, um Absatz 1 so in sein innerstaatliches Recht umzusetzen, dass die von ihm erfassten Handlungen als Straftaten umschrieben werden.
…”
Rz. 5
Art. 2 Abs. 1 des SFI-Übereinkommens bestimmt:
„Jeder Mitgliedst...