Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorabentscheidungsersuchen. Freizügigkeit. Zugang zum Rechtsanwaltsberuf. Möglichkeit, den Angehörigen eines Mitgliedstaats, die die Qualifikation für den Rechtsanwaltsberuf in einem anderen Mitgliedstaat erworben haben, die Eintragung in das Verzeichnis der Rechtsanwaltskammer zu verweigern. Rechtsmissbrauch
Beteiligte
Consiglio dell'Ordine degli Avvocati di Macerata |
Tenor
1. Art. 3 der Richtlinie 98/5/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 1998 zur Erleichterung der ständigen Ausübung des Rechtsanwaltsberufs in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Qualifikation erworben wurde, ist dahin auszulegen, dass es keine missbräuchliche Praktik darstellen kann, wenn sich ein Angehöriger eines Mitgliedstaats in einen anderen Mitgliedstaat begibt, um dort nach erfolgreich abgelegten Universitätsprüfungen die Qualifikation für den Rechtsanwaltsberuf zu erwerben, und danach in den Mitgliedstaat, dem er angehört, zurückkehrt, um dort den Rechtsanwaltsberuf unter der Berufsbezeichnung auszuüben, die er in dem Mitgliedstaat erlangt hat, in dem er auch die Berufsqualifikation erworben hat.
2. Die Prüfung der zweiten Vorlagefrage hat nichts ergeben, was die Gültigkeit von Art. 3 der Richtlinie 98/5 beeinträchtigen könnte.
Tatbestand
In den verbundenen Rechtssachen
betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Consiglio Nazionale Forense (Italien) mit Entscheidungen vom 29. September 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 4. Februar 2013, in den Verfahren
Angelo Alberto Torresi (C-58/13),
Pierfrancesco Torresi (C-59/13)
gegen
Consiglio dell'Ordine degli Avvocati di Macerata
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, des Vizepräsidenten K. Lenaerts, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten M. Ilešič, L. Bay Larsen (Berichterstatter), E. Juhász und M. Safjan, der Richter A. Rosas und D. Šváby, der Richterin M. Berger, der Richter S. Rodin und F. Biltgen sowie der Richterin K. Jürimäe,
Generalanwalt: N. Wahl,
Kanzler: A Impellizzeri, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 11. Februar 2014,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Herren Torresi, vertreten durch C. Torresi, avvocato,
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von S. Fiorentino, avvocato dello Stato,
- der spanischen Regierung, vertreten durch A. Rubio González und S. Centeno Huerta als Bevollmächtigte,
- der österreichischen Regierung, vertreten durch A. Posch als Bevollmächtigten,
- der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
- der rumänischen Regierung, vertreten durch R.-H. Radu, R.-I. Hatieganu und A.-L. Crişan als Bevollmächtigte,
- des Europäischen Parlaments, vertreten durch M. Gómez-Leal und L. Visaggio als Bevollmächtigte,
- des Rates der Europäischen Union, vertreten durch A. Vitro und P. Mahnič Bruni als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch E. Montaguti und H. Støvlbæk als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 10. April 2014
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung und die Gültigkeit von Art. 3 der Richtlinie 98/5/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 1998 zur Erleichterung der ständigen Ausübung des Rechtsanwaltsberufs in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Qualifikation erworben wurde (ABl. L 77, S. 36).
Rz. 2
Sie ergehen im Rahmen zweier Rechtsstreitigkeiten, die die Herren Torresi jeweils gegen den Consiglio dell'Ordine degli Avvocati di Macerata (Ausschuss der Rechtsanwaltskammer Macerata) angestrengt haben, weil dieser ihren Anträgen auf Eintragung in die Sonderabteilung des Anwaltsverzeichnisses nicht stattgab.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Der sechste Erwägungsgrund der Richtlinie 98/5 lautet:
„Ein Tätigwerden auf Gemeinschaftsebene ist auch deswegen gerechtfertigt, weil bisher erst einige Mitgliedstaaten gestatten, dass Rechtsanwälte aus anderen Mitgliedstaaten unter ihrer ursprünglichen Berufsbezeichnung eine Anwaltstätigkeit in anderer Form denn als Dienstleistung in ihrem Gebiet ausüben. In den Mitgliedstaaten, in denen diese Möglichkeit gegeben ist, gelten sehr unterschiedliche Modalitäten, beispielsweise was das Tätigkeitsfeld und die Pflicht zur Eintragung bei den zuständigen Stellen betrifft. Solche unterschiedlichen Situationen führen zu Ungleichheiten und Wettbewerbsverzerrungen im Verhältnis zwischen den Rechtsanwälten der Mitgliedstaaten und bilden ein Hindernis für die Freizügigkeit. Nur durch eine Richtlinie zur Regelung der Bedingungen, unter denen Rechtsanwälte, die unter ihrer ursprünglichen Berufsbezeichnung tätig sind, ihren Beruf in anderer Form denn als Dienstleistung ausüben dürfen, können diese Probleme gelöst und in allen Mitgliedstaaten den Rech...