Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorlage zur Vorabentscheidung. Wettbewerb. Begriffe ‚Unternehmen‘ und ‚Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen‘. Beschlüsse der Notarkammer eines Mitgliedstaats zur Festlegung der Methoden für die Berechnung der Gebühren. ‚Bezweckte‘ Beschränkung. Verbot. Kein Rechtfertigungsgrund. Geldbuße. Verhängung gegen die Unternehmensvereinigung und ihre Mitglieder. Zuwiderhandelnder

 

Normenkette

AEUV Art. 101

 

Beteiligte

Lietuvos notarų rūmai u.a.

Lietuvos notarų rūmai

M. S.

S. Š

D. V.

V. P.

J. P.

D. L.- B.

D. P.

R. O. I.

Lietuvos Respublikos konkurencijos taryba

 

Tenor

1.Art. 101 AEUV ist dahin auszulegen, dass in einem Mitgliedstaat niedergelassene Notare als „Unternehmen“ im Sinne dieser Bestimmung anzusehen sind, wenn sie in bestimmten Situationen Tätigkeiten der Beurkundung von grundpfandrechtlichen Vorgängen, der Erteilung einer Vollstreckungsklausel, der Ausfertigung notarieller Urkunden, der Ausarbeitung von Rechtsgeschäften, der Beratung, der Erbringung technischer Dienstleistungen und der Beglaubigung von Tauschverträgen ausüben, da diese Tätigkeiten nicht in Ausübung hoheitlicher Befugnisse erfolgen.

2.Art. 101 Abs. 1 AEUV ist dahin auszulegen, dass von einem Berufsverband wie der Notarkammer eines Mitgliedstaats erlassene Vorschriften zur Vereinheitlichung der Art und Weise, in der die Notare dieses Mitgliedstaats die Höhe der für die Ausübung bestimmter ihrer Tätigkeiten in Rechnung gestellten Gebühren berechnen, als Beschlüsse einer Unternehmensvereinigung im Sinne dieser Bestimmung anzusehen sind.

3.Art. 101 Abs. 1 AEUV ist dahin auszulegen, dass Beschlüsse einer Unternehmensvereinigung, mit denen die Art und Weise, in der die Notare die Höhe der für die Ausübung bestimmter ihrer Tätigkeiten in Rechnung gestellten Gebühren berechnen, vereinheitlicht wird, nach dieser Bestimmung verbotene „bezweckte“ Wettbewerbsbeschränkungen darstellen.

4.Art. 101 AEUV ist dahin auszulegen, dass er es einer nationalen Wettbewerbsbehörde verwehrt, wegen einer Zuwiderhandlung einer Unternehmensvereinigung gegen diese Bestimmung individuelle Geldbußen gegen die Unternehmen zu verhängen, die Mitglieder des Leitungsorgans dieser Vereinigung sind, wenn diese Unternehmen an der Zuwiderhandlung nicht beteiligt waren.

 

Tatbestand

In der Rechtssache C-128/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas (Oberstes Verwaltungsgericht Litauens) mit Entscheidung vom 17. Februar 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 26. Februar 2021, in dem Verfahren

Lietuvos notarų rūmai,

M. S.,

S. Š,

D. V.,

V. P.,

J. P.,

D. L.-B.,

D. P.,

R. O. I.

gegen

Lietuvos Respublikos konkurencijos taryba,

Beteiligte:

Lietuvos Respublikos teisingumo ministerija,

Lietuvos Respublikos finansų ministerija,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev (Berichterstatter), des Vizepräsidenten des Gerichtshofs L. Bay Larsen in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Ersten Kammer, des Präsidenten der Zehnten Kammer Z. Csehi sowie der Richter P. G. Xuereb und A. Kumin,

Generalanwalt: G. Pitruzzella,

Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 15. September 2022,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • –        des Lietuvos notarų rūmai sowie von M. S., S. Š, D. V., V. P., J. P., D. L.-B, D. P. und R. O. I., vertreten durch L. Butkevičius und V. Vadapalas, Advokatai,
  • –        des Lietuvos Respublikos konkurencijos taryba, vertreten durch M. Dumbrytė-Ožiūnienė und Š. Keserauskas als Bevollmächtigte,
  • –        der litauischen Regierung, vertreten durch K. Dieninis und R. Dzikovič als Bevollmächtigte,
  • –        der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von F. Varrone, Avvocato dello Stato,
  • –        der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Jimeno Fernández, I. Rogalski und A. Steiblytė als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 12. Januar 2023

folgendes

Urteil

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 101 Abs. 1 AEUV.

Rz. 2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Lietuvos notarų rūmai (Notarkammer von Litauen, im Folgenden: Notarkammer) sowie M. S., S. Š, D. V., V. P., J. P., D. L.-B., D. P. und R. O. I., natürlichen Personen, die in Litauen den Notarberuf ausüben, auf der einen Seite und dem Lietuvos Respublikos konkurencijos taryba (Wettbewerbsrat der Republik Litauen, im Folgenden: Wettbewerbsrat) auf der anderen Seite wegen dessen Entscheidung, gegen die Notarkammer und diese Notare Geldbußen wegen Verstoßes gegen das Wettbewerbsrecht der Republik Litauen und der Union zu verhängen.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Rz. 3

In Art. 5 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln [101] und [102 AEUV] niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. 2003, L 1, S. 1) heißt es:

„Die Wettbe...

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