Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Soziale Sicherheit. Beamte der Europäischen Union. Protokoll (Nr. 7) über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union. Zwingender Anschluss an das System der sozialen Sicherheit der Organe der Union. Eine nebenberufliche Tätigkeit als Selbständiger ausübender Unionsbeamter. Beitragspflicht zur Sozialversicherung nach dem Recht des Mitgliedstaats, in dem diese Tätigkeit ausgeübt wird
Beteiligte
Partena, Assurances Sociales pour Travailleurs Indépendants ASBL |
Tenor
Art. 14 des Protokolls (Nr. 7) über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union, der Grundsatz der Anwendbarkeit nur eines Systems der sozialen Sicherheit, wie er in der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit festgelegt ist, und der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, wie er in Art. 4 Abs. 3 EUV verankert ist,
sind dahin auszulegen, dass
sie Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats entgegenstehen, nach denen ein Beamter der Europäischen Union, der eine nebenberufliche Lehrtätigkeit im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats ausübt, an dessen System der sozialen Sicherheit angeschlossen sein muss.
Tatbestand
In der Rechtssache C-195/23
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal du travail francophone de Bruxelles (französischsprachiges Arbeitsgericht von Brüssel, Belgien) mit Entscheidung vom 13. März 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 27. März 2023, in dem Verfahren
GI
gegen
Partena, Assurances Sociales pour Travailleurs Indépendants ASBL
erlässt
DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten F. Biltgen (Berichterstatter), des Richters J. Passer und der Richterin M. L. Arastey Sahún,
Generalanwalt: A. Rantos,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – von GI, vertreten durch J.-F. Neven, Avocat,
- – der belgischen Regierung, vertreten durch S. Baeyens, C. Pochet und A. Van Baelen als Bevollmächtigte im Beistand von S. Rodrigues und A. Tymen, Avocats,
- – der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch T. S. Bohr und B.-R. Killmann als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 14 des Protokolls (Nr. 7) über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union (im Folgenden: Protokoll) und Art. 4 Abs. 3 EUV.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen GI, einem Beamten der Europäischen Kommission, und der Partena, Assurances sociales pour travailleurs indépendants ASBL (im Folgenden: Partena), einer Vereinigung ohne Erwerbszweck, über die Versicherungspflicht von GI beim belgischen Sozialversicherungssystem für Selbstständige wegen einer nebenberuflichen Tätigkeit.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Protokoll
Rz. 3
Art. 12 des Protokolls lautet:
„Von den Gehältern, Löhnen und anderen Bezügen, welche die [Europäische] Union ihren Beamten und sonstigen Bediensteten zahlt, wird zugunsten der Union eine Steuer gemäß den Bestimmungen und dem Verfahren erhoben, die vom Europäischen Parlament und vom Rat [der Europäischen Union] durch Verordnungen gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren und nach Anhörung der betroffenen Organe festgelegt werden.
Die Beamten und sonstigen Bediensteten sind von innerstaatlichen Steuern auf die von der Union gezahlten Gehälter, Löhne und Bezüge befreit.“
Rz. 4
In Art. 14 des Protokolls heißt es:
„Das … Parlament und der Rat legen durch Verordnungen gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren nach Anhörung der betroffenen Organe das System der Sozialleistungen für die Beamten und sonstigen Bediensteten der Union fest.“
Statut
Rz. 5
Art. 12b Abs. 1 des Statuts der Beamten der Europäischen Union in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Statut) bestimmt:
„Will der Beamte eine Nebentätigkeit gegen Entgelt oder ohne Entgelt ausüben oder einen Auftrag außerhalb der Union übernehmen, so muss er hierfür vorbehaltlich des Artikels 15 die vorherige Zustimmung der Anstellungsbehörde einholen. Diese Zustimmung wird nur dann verweigert, wenn die Tätigkeit oder der Auftrag die Leistungsfähigkeit des Beamten beeinträchtigen kann oder mit den Interessen des Organs nicht vereinbar ist.“
Rz. 6
Art. 72 des Statuts sieht vor:
„(1) In Krankheitsfällen wird dem Beamten … nach einer von den Anstellungsbehörden der Organe der Union im gegenseitigen Einvernehmen nach Stellungnahme des Statutsbeirats beschlossenen Regelung Ersatz der Aufwendungen bis zu 80 v. H. gewährleistet. …
…
Der zur Sicherstellung dieser Krankheitsfürsorge erforderliche Betrag wird zu einem Drittel von dem Berechtigten getragen; dies...