Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr. Begriff ‚Geschäftsverkehr’. Begriffe ‚Lieferung von Gütern’ und ‚Erbringung von Dienstleistungen’. Öffentlicher Bauauftrag
Normenkette
Richtlinie 2000/35/EG Art. 1, 2 Nr. 1 Abs. 1
Beteiligte
Azienda Sanitaria Locale AL |
Tenor
Art. 2 Nr. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2000/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. Juni 2000 zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr ist dahin auszulegen, dass ein öffentlicher Bauauftrag einen Geschäftsvorgang, der zu einer Lieferung von Gütern oder Erbringung von Dienstleistungen führt, im Sinne dieser Bestimmung darstellt und somit in den sachlichen Anwendungsbereich dieser Richtlinie fällt.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunale ordinario di Torino (Ordentliches Gericht Turin, Italien) mit Entscheidung vom 9. März 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 11. April 2019, in dem Verfahren
Techbau SpA
gegen
Azienda Sanitaria Locale AL
erlässt
DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten N. Piçarra (Berichterstatter), des Richters S. Rodin und der Richterin K. Jürimäe,
Generalanwalt: M. Bobek,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Azienda Sanitaria Locale AL, vertreten durch C. Castellotti, avvocato,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Tricot, G. Gattinara und K. Mifsud-Bonnici als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2000/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. Juni 2000 zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr (ABl. 2000, L 200, S. 35).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Techbau SpA und der Azienda Sanitaria Locale AL (Örtliches Gesundheitsamt Alessandria, Italien) (im Folgenden: ASL) über die Zahlung von Verzugszinsen auf den Betrag, der für die Ausführung eines Auftrags zur Errichtung eines Operationsblocks für ein Krankenhaus geschuldet wird.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 2000/35
Rz. 3
Die Richtlinie 2000/35 wurde durch die Richtlinie 2011/7/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 2011 zur Bekämpfung von Zahlungsverzug im Geschäftsverkehr (ABl. 2011, L 48, S. 1) mit Wirkung vom 16. März 2013 aufgehoben und ersetzt.
Rz. 4
In den Erwägungsgründen 7, 9, 10, 13, 16, 19, 20 und 22 der Richtlinie 2000/35 hieß es:
„(7) Den Unternehmen, insbesondere kleinen und mittleren, verursachen übermäßig lange Zahlungsfristen und Zahlungsverzug große Verwaltungs- und Finanzlasten. Überdies zählen diese Probleme zu den Hauptgründen für Insolvenzen, die den Bestand der Unternehmen gefährden, und führen zum Verlust zahlreicher Arbeitsplätze.
…
(9) Die Unterschiede zwischen den Zahlungsbestimmungen und -praktiken in den Mitgliedstaaten beeinträchtigen das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes.
(10) Dies hat eine beträchtliche Einschränkung des Geschäftsverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten zur Folge. Es widerspricht Artikel 14 [EG (jetzt Art. 26 AEUV)], da Unternehmer in der Lage sein sollten, im gesamten Binnenmarkt unter Bedingungen Handel zu treiben, die gewährleisten, dass grenzüberschreitende Geschäfte nicht größere Risiken mit sich bringen als Inlandsverkäufe. Es käme zu Wettbewerbsverzerrungen, wenn es für den Binnen- und den grenzüberschreitenden Handel Regeln gäbe, die sich wesentlich voneinander unterscheiden.
…
(13) Diese Richtlinie ist auf die als Entgelt für Handelsgeschäfte geleisteten Zahlungen beschränkt und umfasst weder Geschäfte mit Verbrauchern noch die Zahlung von Zinsen im Zusammenhang mit anderen Zahlungen, z. B. unter das Scheck- und Wechselrecht fallenden Zahlungen oder Schadensersatzzahlungen einschließlich Zahlungen von Versicherungsgesellschaften.
…
(16) Zahlungsverzug stellt einen Vertragsbruch dar, der für die Schuldner in den meisten Mitgliedstaaten durch niedrige Verzugszinsen und/oder langsame Beitreibungsverfahren finanzielle Vorteile bringt. Ein durchgreifender Wandel, der auch eine Entschädigung der Gläubiger für die ihnen entstandenen Kosten vorsieht, ist erforderlich, um diese Entwicklung umzukehren und um sicherzustellen, dass die Folgen des Zahlungsverzugs von der Überschreitung der Zahlungsfristen abschrecken.
…
(19) Der Missbrauch der Vertragsfreiheit zum Nachteil des Gläubigers sollte nach dieser Richtlinie verboten sein….
(20) Die Folgen des Zahlungsverzugs können jedoch nur abschreckend wirken, wenn sie mit Beitreibungsverfahren gekoppelt sind, die für den Gläubiger schnell und wirksam sind. Nach dem Grundsatz der Nichtdiskriminierung in Art. 12 [EG] sollten diese Verfahren allen in der [Europäischen Union] niedergelassenen Gläubigern z...