Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Umwelt. Luftverschmutzung. Luftqualität. Luftqualitätsplan. Grenzwerte für Stickstoffdioxid. Pflicht zum Erlass geeigneter Maßnahmen, um einen möglichst geringen Zeitraum der Überschreitung zu gewährleisten. Pflicht der nationalen Gerichte, jede erforderliche Maßnahme zu erlassen. Weigerung einer Regionalregierung, eine gerichtliche Anordnung zu befolgen. Beabsichtigte Verhängung von Zwangshaft gegen hohe politische Vertreter oder hohe Beamte der betreffenden Region. Effektiver gerichtlicher Rechtsschutz. Recht auf Freiheit der Person. Rechtsgrundlage. Verhältnismäßigkeit
Normenkette
Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 6, Art. 47 Abs. 1, Art. 52 Abs. 1; Richtlinie 2008/50/EG
Beteiligte
Deutsche Umwelthilfe e. V |
Tenor
Das Unionsrecht, insbesondere Art. 47 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ist dahin auszulegen, dass unter Umständen, die durch die beharrliche Weigerung einer nationalen Behörde gekennzeichnet sind, einer gerichtlichen Entscheidung nachzukommen, mit der ihr aufgegeben wird, eine klare, genaue und unbedingte Verpflichtung zu erfüllen, die sich aus dem Unionsrecht, etwa aus der Richtlinie 2008/50/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Mai 2008 über Luftqualität und saubere Luft für Europa, ergibt, das zuständige nationale Gericht Zwangshaft gegen Amtsträger der Behörde zu verhängen hat, wenn es in den Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts eine hinreichend zugängliche, präzise und in ihrer Anwendung vorhersehbare Rechtsgrundlage für den Erlass einer solchen Zwangsmaßnahme gibt und wenn die damit verbundene Einschränkung des durch Art. 6 der Charta der Grundrechte garantierten Rechts auf Freiheit den übrigen insoweit in ihrem Art. 52 Abs. 1 aufgestellten Voraussetzungen genügt. Fehlt im innerstaatlichen Recht hingegen eine solche Rechtsgrundlage, ermächtigt das Unionsrecht das nationale Gericht nicht, auf eine derartige Maßnahme zurückzugreifen.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof (Deutschland) mit Entscheidung vom 9. November 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 3. Dezember 2018, in dem Verfahren
Deutsche Umwelthilfe e. V.
gegen
Freistaat Bayern
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Kammerpräsidenten M. Vilaras, E. Regan, M. Safjan (Berichterstatter) und S. Rodin, der Kammerpräsidentin L. S. Rossi, des Kammerpräsidenten I. Jarukaitis sowie der Richter E. Juhász, D. Šváby, C. Vajda und F. Biltgen, der Richterin K. Jürimäe und des Richters A. Kumin,
Generalanwalt: H. Saugmandsgaard Øe,
Kanzler: D. Dittert, Referatsleiter,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 3. September 2019,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Deutschen Umwelthilfe e. V., vertreten durch Rechtsanwalt R. Klinger,
- des Freistaats Bayern, vertreten durch J. Vogel, W. Brechmann und P. Frei als Bevollmächtigte,
- der deutschen Regierung, vertreten durch S. Eisenberg als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Erlbacher, G. Gattinara und E. Manhaeve als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 14. November 2019
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 9 Abs. 4 Satz 1 des am 25. Juni 1998 in Aarhus unterzeichneten und durch den Beschluss 2005/370/EG des Rates vom 17. Februar 2005 im Namen der Europäischen Gemeinschaft genehmigten Übereinkommens über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten (ABl. 2005, L 124, S. 1, im Folgenden: Aarhus-Übereinkommen), von Art. 4 Abs. 3 und Art. 19 Abs. 1 EUV, von Art. 197 Abs. 1 AEUV und von Art. 47 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Deutschen Umwelthilfe e. V., einer Nichtregierungsorganisation im Bereich des Umweltschutzes, und dem Freistaat Bayern (Deutschland) wegen der Zwangsvollstreckung einer gerichtlichen Anordnung, Verkehrsverbote zu erlassen, um den Verpflichtungen aus der Richtlinie 2008/50/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Mai 2008 über Luftqualität und saubere Luft für Europa (ABl. 2008, L 152, S. 1) nachzukommen.
Rechtlicher Rahmen
Völkerrecht
Rz. 3
Art. 9 („Zugang zu Gerichten”) des Aarhus-Übereinkommens sieht vor:
„…
(2) Jede Vertragspartei stellt im Rahmen ihrer innerstaatlichen Rechtsvorschriften sicher, dass Mitglieder der betroffenen Öffentlichkeit,
- die ein ausreichendes Interesse haben oder alternativ
- eine Rechtsverletzung geltend machen, sofern das Verwaltungsprozessrecht einer Vertragspartei dies als Voraussetzung erfordert, Zugang ...