Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Marktmanipulation. Sanktionen. Nationale Rechtsvorschriften, die für dieselbe Tat eine verwaltungsrechtliche und eine strafrechtliche Sanktion vorsehen. Grundsatz ne bis in idem. Strafrechtliche Natur der Verwaltungssanktion. Vorliegen derselben Straftat. Einschränkungen des Grundsatzes ne bis in idem. Voraussetzungen
Normenkette
Richtlinie 2003/6/EG; Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 50, 52 Abs. 1
Beteiligte
Commissione Nazionale per le Società e la Borsa (Consob) |
Tenor
1. Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der es zulässig ist, gegen eine Person ein Verfahren zur Verhängung einer Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur wegen rechtswidriger Marktmanipulationen fortzusetzen, wegen denen sie bereits rechtskräftig strafrechtlich verurteilt wurde, sofern diese Verurteilung unter Berücksichtigung des der Gesellschaft durch die begangene Straftat zugefügten Schadens geeignet ist, die Straftat wirksam, verhältnismäßig und abschreckend zu ahnden.
2. Der in Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verbürgte Grundsatzne bis in idemverleiht dem Einzelnen ein Recht, das im Rahmen eines Rechtsstreits wie dem des Ausgangsverfahrens unmittelbar anwendbar ist.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Corte suprema di cassazione (Oberster Kassationsgerichtshof, Italien) mit Entscheidung vom 20. September 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 24. Oktober 2016, in dem Verfahren
Garlsson Real Estate SA, in Liquidation,
Stefano Ricucci,
Magiste International SA
gegen
Commissione Nazionale per le Società e la Borsa (Consob)
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten M. Ilešič, T. von Danwitz (Berichterstatter), A. Rosas und E. Levits, der Richter E. Juhász, J.-C. Bonichot, A. Arabadjiev, S. Rodin und F. Biltgen, der Richterin K. Jürimäe sowie der Richter C. Lycourgos und E. Regan,
Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,
Kanzler: R. Schiano, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 30. Mai 2017,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Garlsson Real Estate SA, in Liquidation, von Herrn Ricucci und der Magiste International SA, vertreten durch M. Canfora, avvocato,
- der Commissione Nazionale per le Società e la Borsa (Consob), vertreten durch A. Valente, S. Providenti und P. Palmisano, avvocati,
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. Galluzzo und P. Gentili, avvocati dello Stato,
- der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und D. Klebs als Bevollmächtigte,
- der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch V. Di Bucci, R. Troosters und T. Scharf als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 12. September 2017
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) im Licht von Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zu der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Garlsson Real Estate SA, in Liquidation, Herrn Stefano Ricucci und der Magiste International SA auf der einen Seite und der Commissione Nazionale per le Società e la Borsa (Nationale Unternehmens- und Börsenaufsichtsbehörde, Italien) (im Folgenden: Consob) auf der anderen Seite über die Rechtmäßigkeit einer Geldbuße als Verwaltungssanktion, mit der sie wegen Verstößen gegen die Rechtsvorschriften über Marktmanipulation belegt wurden.
Rechtlicher Rahmen
EMRK
Rz. 3
Art. 4 „Recht, wegen derselben Strafsache nicht zweimal vor Gericht gestellt oder bestraft zu werden”) des Protokolls Nr. 7 zur EMRK bestimmt:
„(1) Niemand darf wegen einer Straftat, wegen der er bereits nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht eines Staates rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren desselben Staates erneut verfolgt oder bestraft werden.
(2) Absatz 1 schließt die Wiederaufnahme des Verfahrens nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht des betreffenden Staates nicht aus, falls neue oder neu bekannt gewordene Tatsachen vorliegen oder das vorausgegangene Verfahren schwere, den Ausgang des Verfahrens berührende Mängel aufweist.
(3) Von diesem Artikel darf nicht nach Artikel 15 der Konvention abgewichen werden.”
Unionsrecht
Rz. 4
Nach Art. 5 der Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlament...