Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Insider-Geschäfte. Sanktionen. Nationale Rechtsvorschriften, die für dieselbe Tat eine verwaltungsrechtliche und eine strafrechtliche Sanktion vorsehen. Erstreckung der Rechtskraft eines endgültigen Strafurteils auf das Verwaltungsverfahren. Endgültiges Strafurteil, mit dem vom Vorwurf der Insider-Geschäfte freigesprochen wird. Wirksamkeit der Sanktionen. Grundsatz ne bis in idem. Strafrechtliche Natur der Verwaltungssanktion. Vorliegen derselben Straftat. Einschränkungen des Grundsatzes ne bis in idem. Voraussetzungen
Normenkette
Richtlinie 2003/6/EG; Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 50, 52 Abs. 1
Beteiligte
Commissione Nazionale per le Società e la Borsa (Consob) |
Commissione Nazionale per le Società e la Borsa (Consob) |
Tenor
Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2003 über Insider-Geschäfte und Marktmanipulation (Marktmissbrauch) ist im Licht von Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, wonach ein Verfahren zur Verhängung einer Geldbuße als Verwaltungssanktion nicht fortgesetzt werden darf, nachdem in einem endgültigen freisprechenden Strafurteil festgestellt wurde, dass die Tat, die einen Verstoß gegen die Rechtsvorschriften über Insider-Geschäfte begründen kann und auf deren Grundlage auch dieses Verfahren eingeleitet wurde, nicht erwiesen ist.
Tatbestand
In den verbundenen Rechtssachen
betreffend zwei Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Corte suprema di cassazione (Oberster Kassationsgerichtshof, Italien) mit Entscheidungen vom 27. Mai 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 23. November 2016, in den Verfahren
Enzo Di Puma
gegen
Commissione Nazionale per le Società e la Borsa (Consob) (C-596/16)
und
Commissione Nazionale per le Società e la Borsa (Consob)
gegen
Antonio Zecca (C-597/16)
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten M. Ilešič, T. von Danwitz (Berichterstatter), A. Rosas und E. Levits, der Richter E. Juhász, J.-C. Bonichot, A. Arabadjiev, S. Rodin und F. Biltgen, der Richterin K. Jürimäe sowie der Richter C. Lycourgos und E. Regan,
Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,
Kanzler: R. Schiano, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 30. Mai 2017,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Herrn Di Puma, vertreten durch A. Frangini, F. Belloni und L. Vozza, avvocati,
- von Herrn Zecca, vertreten durch M. Gariboldi und A. Cabras, avvocati,
- der Commissione Nazionale per le Società e la Borsa (Consob), vertreten durch S. Providenti, R. Vampa und P. Palmisano, avvocati,
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. Galluzzo und P. Gentili, avvocati dello Stato,
- der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und D. Klebs als Bevollmächtigte,
- der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandes, M. Figueiredo und F. Costa Pinto als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch V. Di Bucci, R. Troosters und T. Scharf als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 12. September 2017
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 50 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) und der Richtlinie 2014/57/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. April 2014 über strafrechtliche Sanktionen bei Marktmanipulation (Marktmissbrauchsrichtlinie) (ABl. 2014, L 173, S. 179).
Rz. 2
Diese Ersuchen ergehen im Rahmen zweier Rechtsstreitigkeiten, zum einen zwischen Herrn Enzo Di Puma und der Commissione Nazionale per le Società e la Borsa (Nationale Unternehmens- und Börsenaufsichtsbehörde, Italien) (im Folgenden: Consob) und zum anderen zwischen der Consob und Herrn Antonio Zecca, über die Rechtmäßigkeit von Geldbußen als Verwaltungssanktionen, die wegen Insider-Geschäften verhängt wurden.
Rechtlicher Rahmen
EMRK
Rz. 3
Art. 4 „Recht, wegen derselben Strafsache nicht zweimal vor Gericht gestellt oder bestraft zu werden”) des Protokolls Nr. 7 zu der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) bestimmt:
„(1) Niemand darf wegen einer Straftat, wegen der er bereits nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht eines Staates rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren desselben Staates erneut verfolgt oder bestraft werden.
(2) Absatz 1 schließt die Wiederaufnahme des Verfahrens nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht des betreffenden Staates nicht aus, falls neue oder neu bekannt gewordene Tatsachen vorliegen oder das voraus...