Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Wettbewerb. Von der nationalen Wettbewerbsbehörde verhängte Sanktionen. Verjährungsfrist. Verjährungsunterbrechende Handlungen. Nationale Regelung, mit der nach der Einleitung einer Untersuchung die Möglichkeit ausgeschlossen wird, dass eine spätere Verfolgungs- oder Ermittlungshandlung die neue Verjährung unterbrechen könnte. Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung. Anwendungsbereich. Grundsatz der Effektivität
Normenkette
Verordnung (EG) Nr. 1/2003 Art. 25 Abs. 3; AEUV Art. 101; EUV Art. 4 Abs. 3
Beteiligte
Whiteland Import Export SRL |
Tenor
1. Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass die nationalen Gerichte nicht verpflichtet sind, Art. 25 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln [101 und 102 AEUV] niedergelegten Wettbewerbsregeln auf die Verjährung von Befugnissen einer nationalen Wettbewerbsbehörde zur Verhängung von Sanktionen wegen Zuwiderhandlungen gegen das Wettbewerbsrecht der Union anzuwenden.
2. Art. 4 Abs. 3 EUV und Art. 101 AEUV sind im Licht des Grundsatzes der Effektivität dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung in der Auslegung durch die zuständigen nationalen Gerichte entgegenstehen, wonach die Entscheidung der nationalen Wettbewerbsbehörde über die Einleitung einer Untersuchung wegen einer Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsvorschriften der Union die letzte Handlung dieser Behörde ist, die zur Unterbrechung der Verjährung ihrer Befugnis, Sanktionen zu verhängen, führen kann, und die es ausschließt, dass eine spätere Verfolgungs- oder Untersuchungshandlung diese Verjährung unterbrechen kann, wenn sich in Ansehung aller Elemente der in Rede stehenden Verjährungsregelung erweist, dass ein solcher Ausschluss eine systemische Gefahr der Nichtahndung solcher Zuwiderhandlungen birgt, was vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Înalta Curte de Casaţie şi Justiţie (Oberster Kassations- und Gerichtshof, Rumänien) mit Entscheidung vom 14. Februar 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 15. April 2019, in dem Verfahren
Consiliul Concurenţei
gegen
Whiteland Import Export SRL
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev (Berichterstatter), des Präsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Zweiten Kammer sowie der Richter A. Kumin, T. von Danwitz und P. G. Xuereb,
Generalanwalt: G. Pitruzzella,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- des Consiliul Concurenţei, vertreten durch B. Chiriţoiu, C. Butacu, I. Dăsculţu und C. Pântea als Bevollmächtigte,
- der Whiteland Import Export SRL, vertreten durch Rechtsanwalt D. Schroeder,
- der rumänischen Regierung, zunächst vertreten durch C.-R. Canţăr, O.-C. Ichim und A. Rotăreanu, dann durch E. Gane, O.-C. Ichim und A. Rotăreanu als Bevollmächtigte,
- der luxemburgischen Regierung, zunächst vertreten durch T. Uri und C. Schiltz als Bevollmächtigte, dann durch T. Uri als Bevollmächtigten,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Meessen und I. Rogalski als Bevollmächtigte,
- der EFTA-Überwachungsbehörde, vertreten durch C. Simpson, I. O. Vilhjálmsdóttir und C. Zatschler als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 3. September 2020
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 3 EUV, Art. 101 AEUV und Art. 25 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln [101 und 102 AEUV] niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. 2003, L 1, S. 1).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Consiliul Concurenţei (Wettbewerbsrat, Rumänien) und der Whiteland Import Export SRL (im Folgenden: Whiteland) wegen einer Entscheidung, mit der gegen diese Gesellschaft eine Geldbuße wegen Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsvorschriften verhängt wurde.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 23 der Verordnung Nr. 1/2003 gibt der Europäischen Kommission die Möglichkeit, gegen Unternehmen und Unternehmensvereinigungen wegen Zuwiderhandlungen gegen die wettbewerbsrechtlichen Vorschriften der Union Geldbußen zu verhängen. Art. 24 dieser Verordnung ermächtigt die Kommission, Zwangsgelder festzusetzen, insbesondere um diese Unternehmen und Unternehmensvereinigungen zu zwingen, Zuwiderhandlungen dieser Art abzustellen.
Rz. 4
Art. 25 Abs. 1 und 3 der Verordnung sieht vor:
„(1) Die Befugnis der Kommission nach den Artikeln 23 und 24 verjährt
- in drei Jahren bei Zuwiderhandlungen gegen Vorschriften über die Einholung von Auskünften oder die Vornahme von Nachprüfungen,
- in fünf Jahren bei den übrigen Zuwiderhandlungen.
…
(3) Die Verjährung der Befugnis zur Festsetzung von Geldbußen oder Zwangsgelder...