Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Assoziierungsabkommen EWG-Türkei. Aufenthaltsrecht der Familienangehörigen eines türkischen Arbeitnehmers, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört. Einbürgerung des betreffenden Familienangehörigen im Aufnahmemitgliedstaat. Fortbestand des Aufenthaltsrechts. Wohlerworbene Rechte
Normenkette
Beschluss Nr. 1/80 Art. 7 Abs. 1
Beteiligte
Tenor
Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei ist dahin auszulegen, dass ein Familienangehöriger eines türkischen Arbeitnehmers, der die in dieser Bestimmung vorgesehenen Rechte erworben hat, diese Rechte nicht verliert, wenn er die Staatsangehörigkeit des Aufnahmemitgliedstaats erwirbt und seine bisherige Staatsangehörigkeit verliert.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgericht Düsseldorf (Deutschland) mit Entscheidung vom 24. September 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 30. September 2019, in dem Verfahren
GR
gegen
Stadt Duisburg
erlässt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen, der Vizepräsidentin des Gerichtshofs R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) sowie des Richters M. Safjan,
Generalanwalt: G. Pitruzzella,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der österreichischen Regierung, vertreten durch J. Schmoll und E. Samoilova als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch B.-R. Killmann und D. Martin als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei. Der Assoziationsrat wurde durch das Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichtet, das am 12. September 1963 in Ankara von der Republik Türkei einerseits und den Mitgliedstaaten der EWG und der Gemeinschaft andererseits unterzeichnet und durch den Beschluss 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 (ABl. 1964, Nr. 217, S. 3685) im Namen der Gemeinschaft geschlossen, gebilligt und bestätigt wurde.
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen GR und der Stadt Duisburg (Deutschland) über deren Ablehnung des Antrags von GR auf Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 bestimmt:
„Die Familienangehörigen eines dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates angehörenden türkischen Arbeitnehmers, die die Genehmigung erhalten haben, zu ihm zu ziehen,
- haben vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs das Recht, sich auf jedes Stellenangebot zu bewerben, wenn sie dort seit mindestens drei Jahre ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz haben;
- haben freien Zugang zu jeder von ihnen gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis, wenn sie dort seit mindestens fünf Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz haben.”
Rz. 4
Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 sieht vor:
„Dieser Abschnitt gilt vorbehaltlich der Beschränkungen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind.”
Deutsches Recht
Rz. 5
§ 4 Abs. 5 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S. 1950) in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung bestimmt:
„Ein Ausländer, dem nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei ein Aufenthaltsrecht zusteht, ist verpflichtet, das Bestehen des Aufenthaltsrechts durch den Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nachzuweisen, sofern er weder eine Niederlassungserlaubnis noch eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EU besitzt. Die Aufenthaltserlaubnis wird auf Antrag ausgestellt.”
Rz. 6
In § 43 Abs. 2 des Verwaltungsverfahrensgesetzes Nordrhein-Westfalen heißt es:
„Ein Verwaltungsakt bleibt wirksam, solange und soweit er nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist.”
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
Rz. 7
GR ist eine türkische Staatsangehörige, der 1970 gestattet wurde, zu ihrem Ehemann, der ebenfalls die türkische Staatsangehörigkeit besaß, nach Deutschland zu ziehen, wo dieser abhängig beschäftigt war.
Rz. 8
Am 28. Januar 1971 erhielt GR in diesem Mitgliedstaat eine befristete Aufenthaltserlaubnis, die in der Folge mehrfach verlängert wurde. Am 15. Oktober 1996 erhielt GR in diesem Mitgliedstaat...