Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Rechtsstaatlichkeit. Unabhängigkeit der Justiz. Vorrang des Unionsrechts. Fehlende Befugnis eines nationalen Gerichts, nationale Rechtsvorschriften, die vom Verfassungsgericht des betreffenden Mitgliedstaats für verfassungsgemäß erklärt wurden, auf ihre Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht zu prüfen. Disziplinarverfahren
Normenkette
Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 47; EUV Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2
Beteiligte
Tenor
1. Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 2 und Art. 4 Abs. 2 und 3 EUV, Art. 267 AEUV und dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung oder Praxis entgegensteht, wonach die ordentlichen Gerichte eines Mitgliedstaats nicht befugt sind, die Unionsrechtskonformität nationaler Rechtsvorschriften zu prüfen, die das Verfassungsgericht dieses Mitgliedstaats für mit einer nationalen Verfassungsbestimmung, die die Wahrung des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts vorschreibt, vereinbar erklärt hat.
2. Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 2 und Art. 4 Abs. 2 und 3 EUV, Art. 267 AEUV und dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung oder Praxis entgegensteht, wonach ein nationaler Richter mit der Begründung disziplinarisch belangt werden kann, dass er das Unionsrecht in seiner Auslegung durch den Gerichtshof angewandt habe und damit von einer mit dem Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts unvereinbaren Rechtsprechung des Verfassungsgerichts des betreffenden Mitgliedstaats abgewichen sei.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Curtea de Apel Craiova (Berufungsgericht Craiova, Rumänien) mit Entscheidung vom 7. Juli 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 14. Juli 2021, in dem Verfahren
RS
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen (Berichterstatter), der Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, C. Lycourgos, E. Regan und S. Rodin, der Kammerpräsidentin I. Ziemele und des Kammerpräsidenten J. Passer, der Richter F. Biltgen, P. G. Xuereb, N. Piçarra, der Richterin L. S. Rossi, der Richter N. Wahl und D. Gratsias sowie der Richterin M. L. Arastey Sahún,
Generalanwalt: A. M. Collins,
Kanzler: C. Di Bella, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 23. November 2021,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der rumänischen Regierung, vertreten durch E. Gane, L. Liţu und L.-E. Baţagoi als Bevollmächtigte im Beistand von M. Manolache,
- der belgischen Regierung, vertreten durch L. Van den Broeck, M. Jacobs und C. Pochet als Bevollmächtigte,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und J. Langer als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch P. J. O. Van Nuffel, I. Rogalski und K. Herrmann als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 20. Januar 2022
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sowie von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen einer von RS erhobenen Beschwerde, mit der die Dauer der infolge einer Anzeige seiner Ehefrau eingeleiteten Strafverfolgung gerügt wird.
Rechtlicher Rahmen
Verfassung Rumäniens
Rz. 3
Art. 148 Abs. 2 und 4 der Constituţia României (Verfassung Rumäniens) sieht vor:
„(2) Infolge des Beitritts gehen die Vorschriften der Gründungsverträge der Europäischen Union sowie die anderen zwingenden Vorschriften des Gemeinschaftsrechts entgegenstehenden Bestimmungen des nationalen Rechts nach Maßgabe der Beitrittsakte vor.
…
(4) Das Parlament, der Präsident Rumäniens, die Regierung und die Recht sprechende Gewalt gewährleisten die Erfüllung der sich aus der Beitrittsakte und den Bestimmungen in Abs. 2 ergebenden Pflichten.”
Codul de procedură penală (Strafprozessordnung)
Rz. 4
Art. 488¹ des Codul de procedură penală (Strafprozessordnung) sieht vor, dass in Verfahren, die sich im Stadium des Ermittlungsverfahrens befinden, frühestens ein Jahr nach Einleitung der Strafverfolgung eine Beschwerde eingelegt werden kann, um die Beschleunigung eines Strafverfahrens zu beantragen.
Rz. 5
Gemäß Art. 4885 der Strafprozessordnung hat der für Rechte und Freiheiten zuständige Richter oder das zuständige Gericht die Angemessenheit der Dauer der Strafverfolgung anhand einer Reihe von in dieser Bestimmung genannten Gesichtspunkten zu beurteilen.
Rz. 6
Art. 4886 Abs. 1 der Strafprozessordnung sieht vor, dass der für Rechte und Freiheiten zuständige Richter, wenn er den Antrag für begründet hält, der Staatsanwaltschaft eine Frist zur abschließenden Bearbeitung der Sache setzt.
Gesetz Nr. 303/2004
Rz. 7
Art. 99 Buchst. ş der Legea nr. 303/2004 privind statutul judecătorilor şi procurorilor ...