Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Soziale Sicherheit der Wandererwerbstätigen. Anwendungsbereich. Rente wegen voller Erwerbsminderung. Berechnung. Berücksichtigung von in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegten Kindererziehungszeiten. Anwendbarkeit. Freizügigkeit. Hinreichende Verbindung zwischen diesen Erziehungszeiten und den im für die Rente leistungspflichtigen Mitgliedstaat zurückgelegten Versicherungszeiten
Normenkette
Verordnung (EG) Nr. 987/2009 Art. 44 Abs. 2; AEUV Art. 21
Beteiligte
Deutsche Rentenversicherung Bund |
Deutsche Rentenversicherung Bund |
Tenor
Art. 21 AEUV ist dahin auszulegen, dass der für eine Rente wegen voller Erwerbsminderung leistungspflichtige Mitgliedstaat, soweit die betreffende Person die Voraussetzung der Ausübung einer Beschäftigung oder einer selbständigen Erwerbstätigkeit nicht erfüllt, die in Art. 44 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit für die Berücksichtigung der von ihr in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegten Kindererziehungszeiten bei der Gewährung der entsprechenden Rente durch den leistungspflichtigen Mitgliedstaat aufgestellt wird, aber Versicherungszeiten für Ausbildungs- oder Beschäftigungszeiten sowohl vor als auch nach diesen Erziehungszeiten ausschließlich im leistungspflichtigen Mitgliedstaat zurückgelegt hat, verpflichtet ist, die Erziehungszeiten ungeachtet dessen zu berücksichtigen, dass die Person dort weder vor noch unmittelbar nach diesen Zeiten Beiträge entrichtet hat.
Tatbestand
In der Rechtssache C-283/21
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (Deutschland) mit Beschluss vom 23. April 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 4. Mai 2021, in dem Verfahren
VA
gegen
Deutsche Rentenversicherung Bund,
Beteiligter:
RB,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal, des Präsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Zweiten Kammer, der Richter F. Biltgen (Berichterstatter) und J. Passer sowie der Richterin M. L. Arastey Sahún,
Generalanwalt: N. Emiliou,
Kanzler: D. Dittert, Referatsleiter,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 11. Mai 2023,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und R. Kanitz als Bevollmächtigte,
- – der tschechischen Regierung, vertreten durch J. Pavliš, M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
- – der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman, J. M. Hoogveld und C. S. Schillemans als Bevollmächtigte,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Clotuche-Duvieusart, B.-R. Killmann und D. Martin als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 5. Oktober 2023
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 44 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2009, L 284, S. 1).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen VA und der Deutschen Rentenversicherung Bund (Deutschland) über die Berücksichtigung der von VA in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegten Kindererziehungszeiten für die Berechnung ihrer Rente wegen voller Erwerbsminderung durch diesen Träger.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Verordnung (EG) Nr. 883/2004
Rz. 3
Die am 20. Mai 2004 in Kraft getretene Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2004, L 166, S. 1, berichtigt in ABl. 2004, L 200, S. 1) bezweckt die Koordinierung der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit. Gemäß ihrem Art. 91 gilt sie ab dem Tag des Inkrafttretens der Verordnung Nr. 987/2009, das war nach deren Art. 97 der 1. Mai 2010.
Rz. 4
Der erste Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 883/2004 lautet:
„Die Vorschriften zur Koordinierung der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit sind Teil des freien Personenverkehrs und sollten zur Verbesserung des Lebensstandards und der Arbeitsbedingungen beitragen.“
Rz. 5
Art. 1 Buchst. t der Verordnung Nr. 883/2004 definiert den Begriff „Versicherungszeiten“ als die Beitragszeiten, Beschäftigungszeiten oder Zeiten einer selbständigen Erwerbstätigkeit, die nach den Rechtsvorschriften, nach denen sie zurückgelegt worden sind oder als zurückgelegt gelten, als Versicherungszeiten bestimmt oder anerkannt sind, sowie alle gleichgestellten Zeiten, soweit sie nach diesen Rechtsvorschriften als den Versicherungszeiten gleichwertig anerkannt sind.
Rz...