Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Bestimmung des für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaats. Überstellung der betroffenen Person an den für die Prüfung ihres Antrags zuständigen Mitgliedstaat. Aussetzung der Überstellung aufgrund der Covid-19-Pandemie. Unmöglichkeit, die Überstellung durchzuführen. Gerichtlicher Rechtsschutz. Auswirkungen auf die Überstellungsfrist
Normenkette
Verordnung (EU) Nr. 604/2013 Art. 27, 29
Beteiligte
Bundesrepublik Deutschland |
Bundesrepublik Deutschland |
Tenor
Art. 27 Abs. 4 und Art. 29 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist,
sind dahin auszulegen, dass
die in der letztgenannten Bestimmung vorgesehene Überstellungsfrist nicht unterbrochen wird, wenn die zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats auf Art. 27 Abs. 4 dieser Verordnung gestützt eine widerrufliche Entscheidung über die Aussetzung der Vollziehung der Überstellungsentscheidung mit der Begründung erlassen, dass diese Vollziehung aufgrund der Covid-19-Pandemie praktisch unmöglich sei.
Tatbestand
In den verbundenen Rechtssachen
betreffend zwei Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) mit Entscheidungen vom 26. Januar 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 19. April 2021, in den Verfahren
Bundesrepublik Deutschland
gegen
MA (C-245/21),
PB (C-245/21),
LE (C-248/21)
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs L. Bay Larsen (Berichterstatter) in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Ersten Kammer, der Richterin I. Ziemele sowie der Richter P. G. Xuereb und A. Kumin,
Generalanwalt: P. Pikamäe,
Kanzler: R. Stefanova-Kamisheva, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 9. März 2022,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von MA und PB, vertreten durch Rechtsanwalt A. Petzold,
- der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und R. Kanitz als Bevollmächtigte,
- der Schweizer Regierung, vertreten durch S. Lauper als Bevollmächtigten,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Azéma und G. von Rintelen als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 2. Juni 2022
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Die beiden Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 27 Abs. 4 und von Art. 29 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. 2013, L 180, S. 31, im Folgenden: Dublin-III-Verordnung).
Rz. 2
Sie ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen der Bundesrepublik Deutschland sowie MA und PB (Rechtssache C-245/21) bzw. LE (Rechtssache C-248/21) über Entscheidungen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Deutschland) (im Folgenden: Amt), mit denen ihre Asylanträge als unzulässig abgelehnt wurden, das Fehlen von Abschiebehindernissen festgestellt, ihre Rückführung nach Italien angeordnet wurde und gegen sie Einreise- und Aufenthaltsverbote verhängt wurden.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
In den Erwägungsgründen 4 und 5 der Dublin-III-Verordnung heißt es:
„(4) Entsprechend den Schlussfolgerungen [des Europäischen Rates vom 15. und 16. Oktober 1999 in] Tampere sollte das [Gemeinsame Europäische Asylsystem] auf kurze Sicht eine klare und praktikable Formel für die Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats umfassen.
(5) Eine solche Formel sollte auf objektiven und für die Mitgliedstaaten und die Betroffenen gerechten Kriterien basieren. Sie sollte insbesondere eine rasche Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats ermöglichen, um den effektiven Zugang zu den Verfahren zur Gewährung des internationalen Schutzes zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz nicht zu gefährden.”
Rz. 4
Art. 27 Abs. 3 und 4 dieser Verordnung bestimmt:
„(3) Zum Zwecke eines Rechtsbehelfs gegen eine Überstellungsentscheidung oder einer Überprüfung einer Überstellungsentscheidung sehen die Mitgliedstaaten in ihrem innerstaatlichen Recht Folgendes vor:
- dass die betroffene Person aufgrund des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung berechtigt ist, bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats zu bleiben; oder
- dass die Überstellung automatisch ausgesetzt wird und diese Aussetzung innerhalb einer angemessenen Frist endet, innerhal...