Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorlage zur Vorabentscheidung. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen. Gerichtliche Zuständigkeit, Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen. Begriff ‚ Zivil- und Handelssache’. Klage einer Behörde auf Feststellung, Ahndung und Unterlassung wettbewerbsbeschränkender Verhaltensweise

 

Normenkette

Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 Art. 1 Abs. 1

 

Beteiligte

Eurelec Trading

Eurelec Trading SCRL

Scabel SA

Ministre de l'Économie et des Finances

 

Tenor

Art. 1 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen

ist dahin auszulegen, dass

der Begriff „Zivil- und Handelssachen” im Sinne dieser Bestimmung die Klage einer Behörde eines Mitgliedstaats gegen Unternehmen mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat, mit der die Feststellung, Ahndung und Unterlassung wettbewerbsbeschränkender Verhaltensweisen gegenüber im ersten Mitgliedstaat ansässigen Lieferanten bezweckt wird, nicht umfasst, wenn diese Behörde Klage- oder Ermittlungsbefugnisse ausübt, die von den im Verhältnis zwischen Privatpersonen geltenden allgemeinen Regeln abweichen.

 

Tatbestand

In der Rechtssache

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour d'appel de Paris (Berufungsgericht Paris, Frankreich) mit Entscheidung vom 2. Februar 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 14. Februar 2022, in dem Verfahren

Eurelec Trading SCRL,

Scabel SA

gegen

Ministre de l'Économie et des Finances,

Beteiligte:

Groupement d'achat des centres Édouard Leclerc (GALEC),

Association des centres distributeurs Édouard Leclerc (ACDLEC),

erlässt

DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Safjan (Berichterstatter) sowie der Richter N. Piçarra und N. Jääskinen,

Generalanwalt: N. Emiliou,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • der Eurelec Trading SCRL, vertreten durch H. Boularbah, J. Derenne und O. Laude, Avocats,
  • der Scabel SA, vertreten durch D. De Sart und M. Dupont, Avocats,
  • des Groupement d'achat des centres Édouard Leclerc (GALEC) und der Association des centres distributeurs Édouard Leclerc (ACDLEC), vertreten durch G. Parleani und O. Parleani, Avocats,
  • der französischen Regierung, vertreten durch A. Daniel und A.-L. Desjonquères als Bevollmächtigte,
  • der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Noë und W. Wils als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2012, L 351, S. 1).

Rz. 2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Eurelec Trading SCRL (im Folgenden: Eurelec) und der Scabel SA, beide mit Sitz in Belgien, auf der einen und dem Ministre de l'Économie et des Finances (Minister für Wirtschaft und Finanzen, Frankreich) auf der anderen Seite wegen wettbewerbsbeschränkender Verhaltensweisen gegenüber in Frankreich ansässigen Lieferanten.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Rz. 3

Der zehnte Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1215/2012 lautet:

„Der sachliche Anwendungsbereich dieser Verordnung sollte sich, von einigen genau festgelegten Rechtsgebieten abgesehen, auf den wesentlichen Teil des Zivil- und Handelsrechts erstrecken …”

Rz. 4

Art. 1 Abs. 1 in Kapitel I („Anwendungsbereich und Begriffsbestimmungen”) der Verordnung Nr. 1215/2012 sieht vor:

„Diese Verordnung ist in Zivil- und Handelssachen anzuwenden, ohne dass es auf die Art der Gerichtsbarkeit ankommt. Sie gilt insbesondere nicht für Steuer- und Zollsachen sowie verwaltungsrechtliche Angelegenheiten oder die Haftung des Staates für Handlungen oder Unterlassungen im Rahmen der Ausübung hoheitlicher Rechte (acta iure imperii).”

Französisches Recht

Rz. 5

Buch VI („Preis- und Wettbewerbsfreiheit”) des Code de commerce (Handelsgesetzbuch) in der für den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens maßgeblichen Fassung umfasst insbesondere einen Titel IV („Transparenz, wettbewerbsbeschränkende Verhaltensweisen und andere verbotene Verhaltensweisen”). Art. L 442-6 des Code de commerce, der zu Titel IV gehört, bestimmt:

„I. Jeder Erzeuger, Händler, Fabrikant oder jede in die Handwerksrolle eingetragene Person macht sich haftbar und schadensersatzpflichtig, wenn er/sie

2. einem Handelspartner Verpflichtungen auferlegt oder aufzuerlegen versucht, die zu einem erheblichen Ungleichgewicht zwischen den Rechten und Pflichten der beiden Parteien führen;

III. Klage kann bei dem zuständigen Zivil- oder Handelsgericht von jeder Person erhoben werden, die ein berechtigtes Interesse n...

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