Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Normen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzstatus. Mutter minderjähriger, nach Belgien geflüchteter Kinder. Antrag der Mutter auf Gewährung abgeleiteten internationalen Schutzes. Ablehnung. Keine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, der Betroffenen einen Anspruch auf diesen Schutz zuzuerkennen, wenn sie die Voraussetzungen für die Gewährung nicht selbst erfüllt. Unanwendbarkeit
Normenkette
EURL 95/2011; EURL 95/2011 Art. 2 Buchst. j, Art. 20, 23 Abs. 2
Beteiligte
Commissaire général aux réfugiés und aux apatrides (Unité familiale) |
Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides |
Tenor
Die Art. 20 und 23 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes
sind dahin auszulegen, dass
sie die Mitgliedstaaten nicht verpflichten, dem Elternteil eines in einem Mitgliedstaat als Flüchtling anerkannten Kindes, der „Familienangehöriger“ im Sinne von Art. 2 Buchst. j dieser Richtlinie ist, einen Anspruch auf internationalen Schutz in diesem Mitgliedstaat zuzuerkennen.
Tatbestand
In der Rechtssache C-614/22
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Conseil d’État (Staatsrat, Belgien) mit Entscheidung vom 13. September 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 24. September 2022, in dem Verfahren
XXX
gegen
Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Richter F. Biltgen, N. Wahl und J. Passer (Berichterstatter) sowie der Richterin M. L. Arastey Sahún,
Generalanwalt: G. Pitruzzella,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – von XXX, vertreten durch S. Janssens, Avocate,
- – der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs, C. Pochet und M. Van Regemorter als Bevollmächtigte im Beistand von S. Matray, Avocate,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Azéma und J. Hottiaux als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 20 und 23 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen XXX, einer in Belgien wohnhaften guineischen Staatsangehörigen, und dem Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides (Generalkommissar für Flüchtlinge und Staatenlose, Belgien), wegen der Entscheidung, mit der dieser den von XXX in diesem Mitgliedstaat gestellten Antrag auf internationalen Schutz abgelehnt hat.
Rechtlicher Rahmen
Rz. 3
In Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) Buchst. j der Richtlinie 2011/95 heißt es:
„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck
…
j) ‚Familienangehörige‘ die folgenden Mitglieder der Familie der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, die sich im Zusammenhang mit dem Antrag auf internationalen Schutz in demselben Mitgliedstaat aufhalten, sofern die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat:
- – der Ehegatte der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, oder ihr nicht verheirateter Partner, der mit ihr eine dauerhafte Beziehung führt, soweit nach dem Recht oder der Praxis des betreffenden Mitgliedstaats nicht verheiratete Paare ausländerrechtlich vergleichbar behandelt werden wie verheiratete Paare;
- – die minderjährigen Kinder des unter dem ersten Gedankenstrich genannten Paares oder der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, sofern diese nicht verheiratet sind, gleichgültig, ob es sich nach dem nationalen Recht um eheliche oder außerehelich geborene oder adoptierte Kinder handelt;
- – der Vater, die Mutter oder ein anderer Erwachsener, der nach dem Recht oder der Praxis des betreffenden Mitgliedstaats für die Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, verantwortlich ist, wenn diese Person minderjährig und nicht verheiratet ist“.
Rz. 4
Art. 3 („Günstigere Normen“) der Richtlinie 2011/95 sieht vor:
„Die Mitgliedstaaten können günstigere Normen zur Entscheidung darüber, wer als Flüchtling oder Person gilt, die Anspruch auf subsidiären Schutz hat, und zur Bestimmung des Inhalts des internationalen Schutzes erlassen oder beibeha...