Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Europäischer Haftbefehl. Rahmenbeschlüsse. Keine unmittelbare Wirkung. Vorrang des Unionsrechts. Folgen. Erklärung eines Mitgliedstaats, die es ihm ermöglicht, weiterhin die vor dem 5. Dezember 2011 für die Überstellung verurteilter Personen geltenden Rechtsinstrumente anzuwenden. Verspätete Erklärung
Normenkette
Rahmenbeschluss 2002/584/JI Art. 4 Nr. 6; Rahmenbeschluss 2008/909/JI Art. 28 Abs. 2
Beteiligte
Tenor
1. Art. 28 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass eine nach dieser Bestimmung von einem Mitgliedstaat nach dem Zeitpunkt der Annahme dieses Rahmenbeschlusses abgegebene Erklärung keine Rechtswirkungen entfalten kann.
2. Der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts ist dahin auszulegen, dass er ein nationales Gericht nicht verpflichtet, eine Bestimmung des nationalen Rechts, die mit den Bestimmungen eines den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rahmenbeschlüssen entsprechenden Rahmenbeschlusses, dessen Rechtswirkungen gemäß Art. 9 des den Verträgen beigefügten Protokolls (Nr. 36) über die Übergangsbestimmungen aufrechterhalten worden sind, unvereinbar ist, unangewandt zu lassen, da diese Bestimmungen keine unmittelbare Wirkung haben. Die Behörden der Mitgliedstaaten, einschließlich der Gerichte, sind jedoch verpflichtet, ihrem nationalen Recht so weit wie möglich eine rahmenbeschlusskonforme Auslegung beizumessen, die es ihnen ermöglicht, ein Ergebnis zu gewährleisten, das mit dem Zweck vereinbar ist, der mit dem Rahmenbeschluss verfolgt wird.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam, Niederlande) mit Entscheidung vom 28. September 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 28. September 2017, in dem Verfahren wegen der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls gegen
Daniel Adam Popławski,
Beteiligter:
Openbaar Ministerie,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten J.-C. Bonichot, A. Arabadjiev, M. Vilaras und C. Lycourgos (Berichterstatter) sowie der Richter M. Ilešič, J. Malenovský, L. Bay Larsen, C. G. Fernlund und S. Rodin,
Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,
Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 1. Oktober 2018,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- des Openbaar Ministerie, vertreten durch K. van der Schaft und U. E. A. Weitzel als Bevollmächtigte,
- von Herrn Popławski, vertreten durch P. J. Verbeek, und T. O. M. Dieben, advocaten,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und J. Langer, als Bevollmächtigte,
- der spanischen Regierung, vertreten durch M. J. García-Valdecasas Dorrego als Bevollmächtigte,
- der österreichischen Regierung, vertreten durch C. Pesendorfer als Bevollmächtigte,
- der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Troosters, H. Krämer und S. Grünheid als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 27. November 2018
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts und von Art. 28 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union (ABl. 2008, L 327, S. 27).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen der Vollstreckung eines vom Sad Rejonowy w Poznaniu (Rayongericht Posen, Polen) gegen Herrn Daniel Adam Popławski zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe in Polen erlassenen Europäischen Haftbefehls in den Niederlanden.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rahmenbeschluss 2002/584/JI
Rz. 3
In den Erwägungsgründen 5, 7 und 11 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) heißt es:
„(5) Aus dem der [Europäischen] Union gesetzten Ziel, sich zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu entwickeln, ergibt sich die Abschaffung der Auslieferung zwischen Mitgliedstaaten und deren Ersetzung durch ein System der Übergabe zwischen Justizbehörden. Die Einführung eines neuen, vereinfachten Systems der Übergabe von Personen, die einer Straftat verdächtigt werden oder wegen eine...