Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorlage zur Vorabentscheidung. Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Rahmenbeschluss 2002/584/JI. Europäischer Haftbefehl und Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten. Gründe, aus denen die Vollstreckung abgelehnt werden kann. Vom Vollstreckungsmitgliedstaat eingegangene Verpflichtung, die Strafe nach seinem innerstaatlichen Recht zu vollstrecken. Umsetzung. Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung

 

Beteiligte

Popławski

Daniel Adam Popławski

Openbaar Ministerie

 

Tenor

1. Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten ist dahin auszulegen, dass er Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats zur Umsetzung dieser Bestimmung entgegensteht, die es zum einen nicht zulassen, dass ein Ausländer, der in diesem Mitgliedstaat über eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung verfügt, einem anderen Mitgliedstaat auf dessen Antrag zum Zweck der Vollstreckung einer gegen den Ausländer durch rechtskräftiges Urteil verhängten Freiheitsstrafe übergeben wird, und zum anderen für die Justizbehörden des erstgenannten Mitgliedstaats lediglich die Verpflichtung vorsehen, die Justizbehörden des letztgenannten Mitgliedstaats von ihrer Bereitschaft zur Übernahme der Vollstreckung des Urteils zu unterrichten, ohne dass zum Zeitpunkt der Verweigerung der Übergabe die tatsächliche Übernahme der Vollstreckung sichergestellt wäre und ohne dass eine solche Weigerung in Frage gestellt werden kann, falls sich die Übernahme der Vollstreckung später als unmöglich erweisen sollte.

2. Die Bestimmungen des Rahmenbeschlusses 2002/584 haben keine unmittelbare Wirkung. Das zuständige nationale Gericht hat jedoch die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften unter Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der dort anerkannten Auslegungsmethoden so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zwecks dieses Rahmenbeschlusses auszulegen; das bedeutet im vorliegenden Fall, dass die Justizbehörden des Vollstreckungsmitgliedstaats, wenn sie die Vollstreckung eines im Hinblick auf die Übergabe einer im Ausstellungsmitgliedstaat rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe verurteilten Person ausgestellten Europäischen Haftbefehls ablehnen, verpflichtet sind, selbst die wirksame Vollstreckung der gegen diese Person verhängten Strafe zu gewährleisten.

3. Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584 ist dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat nicht gestattet, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, der im Hinblick auf die Übergabe einer rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe verurteilten Person ausgestellt wurde, allein deshalb abzulehnen, weil der Mitgliedstaat beabsichtigt, gegen diese Person wegen der Tat, die Gegenstand des gegen sie ergangenen Urteils ist, Ermittlungen einzuleiten.

 

Tatbestand

In der Rechtssache

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Rechtbank Amsterdam (Bezirksgericht Amsterdam, Niederlande) mit Entscheidung vom 30. Oktober 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 6. November 2015, in dem Verfahren wegen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls gegen

Daniel Adam Popławski,

Beteiligter:

Openbaar Ministerie,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. L. da Cruz Vilaça, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs A. Tizzano in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Fünften Kammer, der Richterin M. Berger (Berichterstatterin) sowie der Richter A. Borg Barthet und F. Biltgen,

Generalanwalt: Y. Bot,

Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 28. September 2016,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • von Herrn Popławski, vertreten durch P. J. Verbeek, advocaat,
  • des Openbaar Ministerie, vertreten durch K. van der Schaft und J. Asbroek,
  • der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman, B. Koopman und J. Langer als Bevollmächtigte,
  • der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
  • der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Troosters und S. Grünheid als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 15. Februar 2017

folgendes

Urteil

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Nr. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1).

Rz. 2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen der Vollstreckung eines vom Sad Rejonowy w Poznaniu (Rayongericht Posen, Polen) gegen Herrn Daniel Adam Popławski zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe in Polen erlassenen Europäischen Haftbefehls in den Niederlanden.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Rahmenbeschluss 2002/584

Rz. 3

Die Erwägungsgründe 6 und 11 des Rahmenbeschlusses 2002/584 lauten:

„(6) Der E...

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