Entscheidungsstichwort (Thema)

Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats. Rechtsstaatlichkeit. Wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen. Grundsätze der Unabsetzbarkeit der Richter und der richterlichen Unabhängigkeit. Herabsetzung des Ruhestandsalters für Richter des Obersten Gerichts. Anwendung auf amtierende Richter. Möglichkeit zur Ausübung des Richteramts über dieses Alter hinaus unter der Voraussetzung einer Zustimmung, deren Erteilung in das freie Ermessen des Präsidenten der Republik gestellt ist

 

Normenkette

EUV Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2

 

Beteiligte

Kommission / Polen (Indépendance de la Cour suprême)

Europäische Kommission

Republik Polen

 

Tenor

1. Die Republik Polen hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV verstoßen, dass sie zum einen vorgesehen hat, dass die Herabsetzung des Ruhestandsalters für Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) auf amtierende Richter Anwendung findet, die vor dem 3. April 2018 an dieses Gericht berufen worden waren, und zum anderen dem Präsidenten der Republik die Befugnis verliehen hat, den aktiven Dienst der Richter dieses Gerichts über das neu festgelegte Ruhestandsalter hinaus nach freiem Ermessen zu verlängern.

2. Die Republik Polen trägt die Kosten.

3. Ungarn trägt seine eigenen Kosten.

 

Tatbestand

In der Rechtssache

betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV, eingereicht am 2. Oktober 2018,

Europäische Kommission, vertreten durch K. Banks, H. Krämer und S. L. Kaleda als Bevollmächtigte,

Klägerin,

gegen

Republik Polen, vertreten durch B. Majczyna, K. Majcher und S. Żyrek als Bevollmächtigte,

Beklagte,

unterstützt durch

Ungarn, vertreten durch M. Z. Fehér als Bevollmächtigten,

Streithelfer,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidentin A. Prechal (Berichterstatterin), der Kammerpräsidenten M. Vilaras und E. Regan, der Richter E. Juhász, M. Ilešič, J. Malenovský, L. Bay Larsen, D. Šváby, C. Vajda, P. G. Xuereb und N. Piçarra, der Richterin L. S. Rossi sowie des Richters I. Jarukaitis,

Generalanwalt: E. Tanchev,

Kanzler: M. Aleksejev, Referatsleiter,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 12. Februar 2019,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 11. April 2019

folgendes

Urteil

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Mit ihrer Klageschrift beantragt die Europäische Kommission festzustellen, dass die Republik Polen dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verstoßen hat, dass sie zum einen das Ruhestandsalter für Richter des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht, Polen) herabgesetzt und diese Maßnahme auf amtierende Richter angewandt hat, die vor dem 3. April 2018 an dieses Gericht berufen worden waren, und zum anderen dem Präsidenten der Republik die Befugnis verliehen hat, den aktiven Dienst der Richter dieses Gerichts über das neu festgelegte Ruhestandsalter hinaus nach freiem Ermessen zu verlängern.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

EU-Vertrag

Rz. 2

Art. 2 EUV lautet:

„Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.”

Rz. 3

Art. 19 Abs. 1 EUV bestimmt:

„Der Gerichtshof der Europäischen Union umfasst den Gerichtshof, das Gericht und Fachgerichte. Er sichert die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge.

Die Mitgliedstaaten schaffen die erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist.”

Charta

Rz. 4

Titel VI („Justizielle Rechte”) Art. 47 („Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht”) der Charta lautet:

„Jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, hat das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen.

Jede Person hat ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. …

…”

Rz. 5

Art. 51 der Charta bestimmt:

„(1) Diese Charta gilt für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Dementsprechend achten sie die Rechte, halten sie sich an die Grundsätze und fördern sie deren Anwendung entsprechend ihren jeweiligen Zuständigkeiten ...

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