Entscheidungsstichwort (Thema)
Obligatorische Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung. Verkehrsunfall. Tod der Eltern des minderjährigen Antragstellers. Schadensersatzanspruch des Kindes. Immaterieller Schaden. Schadensersatz. Deckung durch die Pflichtversicherung
Normenkette
Richtlinie 72/166/EWG Art. 3 Abs. 1; Richtlinie 90/232/EWG Art. 1
Beteiligte
Tenor
1. Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 72/166/EWG des Rates vom 24. April 1972 betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bezüglich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und der Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht und Art. 1 Abs. 1 und 2 der Zweiten Richtlinie 84/5/EWG des Rates vom 30. Dezember 1983 betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bezüglich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung sind dahin auszulegen, dass die obligatorische Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung immaterielle Schäden von Personen, die den Todesopfern eines Verkehrsunfalls nahestanden, decken muss, soweit dieser Schadensersatz aufgrund der zivilrechtlichen Haftung des Versicherten in dem auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren nationalen Recht vorgesehen ist.
2. Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 72/166 und Art. 1 Abs. 1 und 2 der Zweiten Richtlinie 84/5 sind dahin auszulegen, dass sie nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehen, wonach die obligatorische Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung den nach nationalem Haftpflichtrecht beim Tod naher Familienangehöriger aufgrund eines Verkehrsunfalls geschuldeten Ersatz des immateriellen Schadens nur bis zu einem Höchstbetrag deckt, der unter den in Art. 1 Abs. 2 der Zweiten Richtlinie 84/5 festgelegten Beträgen liegt.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Augstākās tiesas Senāts (Lettland) mit Entscheidung vom 16. Mai 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 1. Juni 2012, in dem Verfahren
Vitālijs Drozdovs
gegen
Baltikums AAS
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter J. L. da Cruz Vilaça, G. Arestis, J.-C. Bonichot und A. Arabadjiev (Berichterstatter),
Generalanwalt: N. Jääskinen,
Kanzler: M. Aleksejev, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 20. März 2013,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von Herrn Drozdovs, vertreten durch N. Frīdmane, advokāte,
- der Baltikums AAS, vertreten durch G. Radiloveca, advokāte,
- der lettischen Regierung, vertreten durch A. Nikolajeva und I. Kalniņš als Bevollmächtigte,
- der deutschen Regierung, vertreten durch F. Wannek und T. Henze als Bevollmächtigte,
- der litauischen Regierung, vertreten durch R. Janeckaitė, A. Svinkūnaitė und D. Kriauciunas als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Sauka und K.-P. Wojcik als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 11. Juli 2013
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 72/166/EWG des Rates vom 24. April 1972 betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bezüglich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung und der Kontrolle der entsprechenden Versicherungspflicht (ABl. L 103, S. 1, im Folgenden: Erste Richtlinie) sowie von Art. 1 Abs. 1 und 2 der Zweiten Richtlinie 84/5/EWG des Rates vom 30. Dezember 1983 betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bezüglich der Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung (ABl. 1984, L 8, S. 17, im Folgenden: Zweite Richtlinie).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Drozdovs, vertreten durch Frau Balakireva, und der Baltikums AAS (im Folgenden: Baltikums), einem Versicherungsunternehmen, wegen des Ersatzes des immateriellen Schadens, der Herrn Drozdovs durch den Verkehrsunfalltod seiner Eltern entstanden ist, durch die beklagte Partei im Rahmen der Kraftfahrzeug-Haftpflicht.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 1 der Ersten Richtlinie sieht vor:
„Im Sinne dieser Richtlinie ist zu verstehen unter:
…
2. Geschädigter: jede Person, die ein Recht auf Ersatz eines von einem Fahrzeug verursachten Schadens hat;
…”
Rz. 4
Art. 3 Abs. 1 der Ersten Richtlinie bestimmt:
„Jeder Mitgliedstaat trifft … alle zweckdienlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Haftpflicht bei Fahrzeugen mit gewöhnlichem Standort im Inland durch eine Versicherung gedeckt ist. Die Schadensdeckung sowie die Modalitäten dieser Versicherung werden im Rahmen dieser Maßnahmen bestimmt.”
Rz. 5
In Art. 1 Abs. 1 und 2 der Zweiten Richtlinie heißt es:
„(1) Die in Artikel 3 Absatz 1 der [Ersten Richtlinie] bezeichnete Versicherung hat sowohl Sachschäden als auch Personenschäden zu umfassen.
(2) Unbeschadet höherer Deckungssummen, die von den Mitgliedstaaten gegebenenfalls vorgeschrieben werden, schreibt jeder Mitgliedstaat die Pflichtversicherung mindestens für folgende Betr...