Entscheidungsstichwort (Thema)
Erstattung eines Vorsteuerüberhangs, Verzugszinsen bei Vorsteuererstattung
Leitsatz (amtlich)
Art. 183 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in Verbindung mit dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität ist dahin auszulegen, dass er der Herabsetzung der nach nationalem Recht regelmäßig auf einen nicht fristgerecht erstatteten Mehrwertsteuerüberschuss geschuldeten Zinsen entgegensteht, die wegen vom Steuerpflichtigen unabhängiger Umstände vorgenommen wird, wie etwa der Höhe des Zinsbetrags im Verhältnis zum Betrag des Mehrwertsteuerüberschusses, der Dauer der unterbliebenen Erstattung und den Gründen hierfür sowie den dem Steuerpflichtigen tatsächlich entstandenen Verlusten.
Normenkette
EGRL 112/2006 Art. 183
Beteiligte
Valstybine mokesciu inspekcija prie Lietuvos Respublikos finansu ministerijos |
Verfahrensgang
Lietuvos vyriausiasis (Litauen) (Beschluss vom 05.07.2016; ABl. EU 2016, Nr. C 343/15) |
Tatbestand
„Vorlage zur Vorabentscheidung ‐ Steuern ‐ Mehrwertsteuer ‐ Richtlinie 2006/112/EG ‐ Vorsteuerabzug ‐ Art. 183 ‐ Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses ‐ Verspätete Erstattung ‐ Betrag der nach nationalem Recht geschuldeten Verzugszinsen ‐ Herabsetzung dieses Betrags aus Gründen, die vom Steuerpflichtigen unabhängig sind ‐ Zulässigkeit ‐ Neutralität der Steuer ‐ Rechtssicherheit“
In der Rechtssache C-387/16
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Lietuvos vyriausiasis administracinis teismas (Oberstes Verwaltungsgericht von Litauen) mit Entscheidung vom 5. Juli 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 12. Juli 2016, in dem Verfahren
Valstybinr mokesčių inspekcija prie Lietuvos Respublikos finansų ministerijos
gegen
Nidera BV,
Beteiligte:
Vilniaus apskrities valstybine mokesčių inspekcija,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten T. von Danwitz, der Richter C. Vajda (Berichterstatter) und E. Juhász, der Richterin K. Jürimäe sowie des Richters C. Lycourgos,
Generalanwalt : M. Szpunar,
Kanzler: R. Schiano, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 8. Juni 2017,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ der Nidera BV, vertreten durch I. Misiūnas, V. Vičius und I. Pašvenskaite als Bevollmächtigte,
‐ der litauischen Regierung, vertreten durch D. Kriaučiūnas, R. Butvydyte und R. Krasuckaite als Bevollmächtigte,
‐ der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Lozano Palacios und J. Jokubauskaite als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 5. Oktober 2017
folgendes
Urteil
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 183 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Valstybine mokesčių inspekcija prie Lietuvos Respublikos finansų ministerijos (Staatliche Steuerinspektion beim Finanzministerium der Republik Litauen, im Folgenden: Staatliche Steuerinspektion) und der Nidera BV wegen des Betrags der ihr aufgrund der verspäteten Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses geschuldeten Verzugszinsen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 183 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:
„Übersteigt der Betrag der abgezogenen Vorsteuer den Betrag der für einen Steuerzeitraum geschuldeten Mehrwertsteuer, können die Mitgliedstaaten den Überschuss entweder auf den folgenden Zeitraum vortragen lassen oder nach den von ihnen festgelegen Einzelheiten erstatten.“
Litauisches Recht
Rz. 4
Nach Art. 91 Abs. 10 des Lietuvos Respublikos pridetines vertes mokesčio įstatymas (Gesetz der Republik Litauen über die Mehrwertsteuer) in der Fassung des Gesetzes Nr. IX-751 vom 5. März 2002 war zu viel gezahlte Mehrwertsteuer nach dem Verfahren und innerhalb der Fristen des Lietuvos Respublikos mokesčių administravimo įstatymas (Gesetz der Republik Litauen über die Steuerverwaltung) zurückzuerstatten.
Rz. 5
Art. 8 Abs. 3 des Gesetzes der Republik Litauen über die Steuerverwaltung in der Fassung des Gesetzes Nr. X-1249 vom 3. Juli 2007 (im Folgenden: Gesetz über die Steuerverwaltung) sieht vor:
„Die Steuerbehörden beachten bei der Steuerverwaltung die Kriterien der Angemessenheit und der Billigkeit.“
Rz. 6
Art. 87 Abs. 5 bis 7 und 9 des Gesetzes über die Steuerverwaltung bestimmt:
„(5) Vom Steuerpflichtigen zu viel gezahlte Steuerbeträge sind nach Verrechnung mit eventuellen Zahlungsrückständen auf Antrag des Steuerpflichtigen zu erstatten. …
(6) Die Steuerverwaltung ist berechtigt, nach dem Verfahren und innerhalb der Fristen dieses Gesetzes zu prüfen, ob der Antrag des Steuerpflichtigen auf Erstattung zu viel gezahlter Steuern begründet ist. …
(7) … [D]ie Steuerverwaltung erstattet dem Steuerpflichtigen zu v...