Entscheidungsstichwort (Thema)
Ersuchen um Vorabentscheidung: Tribunal correctionnel d' Arlon. Belgien. Arbeitgeberbeiträge. Treuemarken. Schlechtwettermarken. Freier Dienstleistungsverkehr. Beschränkungen. Verpflichtung der Bauunternehmen, die eine Dienstleistung erbringen, zusätzlich zu am Ort der Niederlassung entrichteten Beiträgen Arbeitgeberbeiträge zu entrichten. Unzulässigkeit. Kein Rechtfertigungsgrund
Leitsatz (amtlich)
Die Artikel 59 und 60 des Vertrages verbieten es einem Mitgliedstaat, ein Bauunternehmen, das in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist und vorübergehend Arbeiten im erstgenannten Staat ausführt, zu verpflichten, Arbeitgeberbeiträge für „Treuemarken” und „Schlechtwettermarken” für die Arbeitnehmer zu entrichten, die mit der Durchführung dieser Arbeiten betraut waren, wenn dieses Unternehmen bereits vergleichbare Arbeitgeberbeiträge für dieselben Arbeitnehmer und dieselben Beschäftigungszeiten in dem Staat, in dem es ansässig ist, zahlen muß.
Eine solche Verpflichtung stellt nämlich, selbst wenn sie unterschiedslos für im Inland ansässige Unternehmen wie für solche gilt, die in einem anderen Mitgliedstaat ansässig sind und vom freien Dienstleistungsverkehr Gebrauch machen, insoweit eine Beschränkung dieser Freiheit dar, als sich die letztgenannten, die in zwei Mitgliedstaaten Beiträge zahlen müssen, einer verschlechterten Wettbewerbsposition gegenübersehen. Diese Beschränkung könnte zwar durch das Allgemeininteresse am sozialen Schutz der Arbeitnehmer des Bausektors gerechtfertigt sein, doch dürften die betreffenden Arbeitnehmer hierzu in dem Mitgliedstaat, in dem ihr Arbeitgeber ansässig ist, nicht bereits den gleichen oder einen im wesentlichen vergleichbaren Schutz genießen.
Das vorlegende Gericht hat zu prüfen, ob den betreffenden Arbeitnehmern, jenseits der technischen Unterschiede zwischen den Systemen zum Schutz der Arbeitnehmer in den beiden Mitgliedstaaten, in dem Staat, in dem das Unternehmen ansässig ist, das sie beschäftigt, nicht bereits ein Mechanismus zugute kommt, der durch die Beiträge ihres Arbeitgebers gespeist wird und ihnen einen Schutz gewährt, der im wesentlichen mit demjenigen vergleichbar ist, der durch den in dem Staat, in dem die Dienstleistung erbracht wird, vorgesehenen Betrag finanziert wird. Wird festgestellt, daß dies der Fall ist, liegt eine unzulässige Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs vor.
Normenkette
EGVtr Art. 59-60
Beteiligte
Michel Guiot und Climatec SA, als zivilrechtlich haftender Arbeitgeber |
Tenor
Die Artikel 59 und 60 EG-Vertrag verbieten es einem Mitgliedstaat, ein Unternehmen, das in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist und vorübergehend Arbeiten im erstgenannten Staat ausführt, zu verpflichten, Arbeitgeberbeiträge für „Treuemarken” und „Schlechtwettermarken” für die Arbeitnehmer zu entrichten, die mit der Durchführung dieser Arbeiten betraut waren, wenn dieses Unternehmen bereits vergleichbare Beiträge für dieselben Arbeitnehmer und dieselben Beschäftigungszeiten in dem Staat, in dem es ansässig ist, zahlen muß.
Gründe
1 Das Tribunal correctionnel Arlon hat mit Urteil vom 1. September 1994, beim Gerichtshof eingegangen am 29. September 1994, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung der Artikel 59 und 60 dieses Vertrages zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2 Diese Frage stellt sich in einem Strafverfahren gegen Herrn Guiot als Geschäftsführer der Climatec SA, Gesellschaft luxemburgischen Rechts, und die Climatec selbst, als zivilrechtlich haftenden Arbeitgeber, die beschuldigt werden, in der Zeit von März 1992 bis März 1993 keine Beiträge für die „Treuemarken” und die „Schlechtwettermarken” gezahlt zu haben, wozu sie nach belgischem Recht wegen der Beschäftigung von vier Arbeitern, die von der Climatec auf einer Baustelle in Arlon (Belgien) eingesetzt wurden, verpflichtet waren. Die für den betreffenden Zeitraum geschuldeten Beträge belaufen sich auf 98 153 BFR.
3 Nach dem im paritätischen Bauausschuß geschlossenen belgischen Tarifvertrag vom 28. April 1988 (im folgenden: Tarifvertrag) über die Vergabe von „Treuemarken” und „Schlechtwettermarken”, der durch Königliche Verordnung vom 15. Juni 1988 (Moniteur belge vom 7. Juli 1988, S. 9897) für verbindlich erklärt wurde, musste auf diese vier im belgischen Hoheitsgebiet beschäftigten Arbeitnehmer die Regelung über „Treuemarken” und „Schlechtwettermarken” angewandt werden.
4 Nach Artikel 2 des Tarifvertrags sind alle dem paritätischen Bauausschuß angehörenden Unternehmen verpflichtet, an den Fonds zur Sicherung des Lebensunterhalts der Bauarbeiter (im folgenden: Fonds) einen Gesamtbeitrag von 9,12 % abzuführen, von dem 9 % für die Vergabe von „Treuemarken” an ihre Arbeiter und 0,12 % zur Deckung der Verwaltungskosten bestimmt sind. Nach Artikel 3 des Tarifvertrags müssen bestimmte Gruppen von Unternehmen ausserdem einen Beitrag von 2,1 % an den Fonds abführen, von dem 2 % für die Vergabe von „Schlechtwettermarken” an ihre Arbeiter und 0,1 % zur Deckung der Verwaltu...