Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Eilvorabentscheidungsverfahren. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Europäischer Haftbefehl. Erfordernis eines Tätigwerdens der vollstreckenden Justizbehörde. Polizeibehörden. Ausschluss. Höhere Gewalt. Begriff. Rechtliche Hindernisse für die Übergabe. Von der gesuchten Person erhobene gesetzliche Klagen. Antrag auf internationalen Schutz. Ablauf der Fristen für die Übergabe. Folgen. Freilassung. Verpflichtung zum Erlass jeglicher anderen Maßnahme zur Verhinderung der Flucht
Normenkette
Rahmenbeschluss 2002/584/JI Art. 23 Abs. 3, Art. 6 Abs. 2, Art. 23 Abs. 5
Beteiligte
Tenor
1. Art. 23 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass sich der Begriff „höhere Gewalt” nicht auf rechtliche Hindernisse für die Übergabe erstreckt, die sich aus von der Person, gegen die der Europäische Haftbefehl ergangen ist, erhobenen und auf das Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats gestützten gesetzlichen Klagen ergeben, wenn die endgültige Entscheidung über die Übergabe von der vollstreckenden Justizbehörde gemäß Art. 15 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses erlassen wurde.
2. Art. 23 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass das in dieser Bestimmung genannte Erfordernis eines Tätigwerdens der vollstreckenden Justizbehörde nicht erfüllt ist, wenn der Vollstreckungsmitgliedstaat einer Polizeibehörde die Aufgabe überträgt, zu überprüfen, ob ein Fall höherer Gewalt vorliegt und ob die Voraussetzungen für die Fortdauer der Inhaftierung der Person, gegen die der Europäische Haftbefehl ergangen ist, eingehalten sind, und gegebenenfalls ein neues Übergabedatum festzulegen. Dies gilt selbst dann, wenn diese Person das Recht hat, jederzeit die vollstreckende Justizbehörde anzurufen, damit diese über die vorgenannten Elemente entscheidet.
Art. 23 Abs. 5 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass die in Art. 23 Abs. 2 bis 4 genannten Fristen als abgelaufen anzusehen sind und die betreffende Person somit freizulassen ist, wenn dem Erfordernis eines Tätigwerdens der vollstreckenden Justizbehörde gemäß Art. 23 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses nicht nachgekommen worden ist.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Korkein oikeus (Oberster Gerichtshof, Finnland) mit Entscheidung vom 20. Dezember 2021, beim Gerichtshof eingegangen am selben Tag, in den Verfahren betreffend die Vollstreckung der Europäischen Haftbefehle, ausgestellt gegen
C,
CD
gegen
Syyttäjä
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal (Berichterstatterin), der Richter J. Passer, F. Biltgen, N. Wahl sowie der Richterin M. L. Arastey Sahún,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 2. März 2022,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von C und CD, vertreten durch H. Nevala, Asianajaja,
- der finnischen Regierung, vertreten durch H. Leppo als Bevollmächtigte,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch J. Langer als Bevollmächtigten,
- der rumänischen Regierung, vertreten durch E. Gane und L.-E. Baţagoi als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid und I. Söderlund als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 10. März 2022
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 Abs. 2 sowie von Art. 23 Abs. 3 und 5 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss 2002/584).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen der Vollstreckung von Europäischen Haftbefehlen, die von einem rumänischen Gericht gegen die rumänischen Staatsangehörigen C und CD ausgestellt worden sind, in Finnland.
Rechtlicher Rahmen
Rahmenbeschluss 2002/584
Rz. 3
In den Erwägungsgründen 8 und 9 des Rahmenbeschlusses 2002/584 heißt es:
„(8) Entscheidungen zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls müssen ausreichender Kontrolle unterliegen; dies bedeutet, dass eine Justizbehörde des Mitgliedstaats, in dem die gesuchte Person festgenommen wurde, die Entscheidung zur Übergabe dieser Person treffen muss.
(9) Die Rolle der Zentralbehörden bei der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls muss sich auf praktische und administrative Unterstützung beschränken.”
Rz. 4
Art. 1 („Defin...