Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen. Gleichbehandlung. Maßnahmen der sozialen Sicherheit, der Sozialhilfe und des Sozialschutzes. Voraussetzung eines Wohnsitzes während mindestens zehn Jahren, davon die letzten beiden ohne Unterbrechung. Mittelbare Diskriminierung
Normenkette
Richtlinie 2003/109/EG Art. 11 Abs. 1 Buchst. d
Beteiligte
CU (Assistance sociale – Discrimination indirecte) |
Tenor
Art. 11 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen, gelesen im Licht von Art. 34 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union,
ist dahin auszulegen, dass
er der Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die den Zugang langfristig aufenthaltsberechtigter Drittstaatsangehöriger zu einer Maßnahme der sozialen Sicherheit, der Sozialhilfe oder des Sozialschutzes von der auch für die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats geltenden Voraussetzung abhängig macht, mindestens zehn Jahre, davon die letzten beiden Jahre ununterbrochen, in diesem Mitgliedstaat gewohnt zu haben, und die jede falsche Erklärung betreffend diese Wohnsitzvoraussetzung mit einer strafrechtlichen Sanktion belegt.
Tatbestand
In den verbundenen Rechtssachen C-112/22 und C-223/22
betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunale di Napoli (Gericht Neapel, Italien), mit Entscheidungen vom 16. Februar 2022 und 22. März 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 17. Februar 2022 bzw. am 29. März 2022, in den Strafverfahren gegen
CU(C-112/22),
ND(C-223/22),
Beteiligte:
Procura della Repubblica presso il Tribunale di Napoli(C-112/22 und C-223/22),
Ministero dell’Economia e delle Finanze(C-112/22 und C-223/22),
Istituto nazionale della previdenza sociale (INPS)(C-223/22),
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentinnen A. Prechal und K. Jürimäe, der Kammerpräsidenten F. Biltgen und N. Piçarra sowie der Richter S. Rodin, P. G. Xuereb, I. Jarukaitis (Berichterstatter) und N. Wahl, der Richterin I. Ziemele und des Richters J. Passer,
Generalanwalt: P. Pikamäe,
Kanzler: C. Di Bella, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 3. Oktober 2023,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- – von CU und ND, vertreten durch M. Costantino, Avvocata,
- – der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von S. Fiorentino und P. Gentili, Avvocati dello Stato,
- – der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Katsimerou, B.-R. Killmann und P. A. Messina als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 25. Januar 2024
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung der Art. 18 und 45 AEUV, Art. 34 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), Art. 30 und 31 der am 18. Oktober 1961 in Turin unterzeichneten und am 3. Mai 1996 in Straßburg revidierten Europäischen Sozialcharta (im Folgenden: Europäische Sozialcharta), Art. 11 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (ABl. 2004, L 16, S. 44), Art. 7 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (ABl. 2011, L 141, S. 1) und Art. 29 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. 2011, L 337, S. 9).
Rz. 2
Diese Ersuchen ergehen im Rahmen von gegen CU (Rechtssache C-112/22) und ND (Rechtssache C-223/22) eingeleiteten Strafverfahren wegen falscher Erklärungen betreffend die Voraussetzungen für den Bezug des „Mindesteinkommens für Staatsangehörige“.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 2003/109
Rz. 3
In den Erwägungsgründen 2 bis 4, 6 und 12 der Richtlinie 2003/109 heißt es:
„(2) Der Europäische Rat hat auf seiner Sondertagung in Tampere am 15. und 16. Oktober 1999 erklärt, dass die Rechtsstellung von Drittstaatsangehörigen an diejenige der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten angenähert werden sollte und einer Person, die sich während eines noch zu bestimmenden Zeitraums in einem Mitgliedstaat rechtmäßig aufgehalten hat und einen langfristigen Aufenthaltstitel besitzt, in diesem Mitgliedstaat eine Reihe einheitlicher Rechte gewährt werden sollte, die denjenigen der Unionsbürger so na...