Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Soziale Sicherheit. Krankenversicherung. In einem anderen Mitgliedstaat als dem Versicherungsmitgliedstaat erbrachte Krankenhausbehandlung. Ablehnung einer Vorabgenehmigung. Krankenhausbehandlung, die im Versicherungsmitgliedstaat wirksam gewährleistet werden kann. Ungleichbehandlung wegen der Religion
Normenkette
Verordnung (EG) Nr. 883/2004 Art. 20 Abs. 2; Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 21; Richtlinie 2011/24/EU Art. 8 Abs. 1, 5, 6 Buchst. d
Beteiligte
Tenor
1. Art. 20 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ist im Licht von Art. 21 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass er es dem Wohnsitzmitgliedstaat des Versicherten nicht verwehrt, diesem die Erteilung der in Art. 20 Abs. 1 dieser Verordnung vorgesehenen Genehmigung zu verweigern, wenn in diesem Mitgliedstaat eine Krankenhausbehandlung verfügbar ist, deren medizinische Wirksamkeit außer Frage steht, dieser Versicherte aber aufgrund seiner religiösen Überzeugungen die angewandte Behandlungsmethode ablehnt.
2. Art. 8 Abs. 5 und Abs. 6 Buchst. d der Richtlinie 2011/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2011 über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung ist im Licht von Art. 21 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass er es dem Versicherungsmitgliedstaat eines Patienten verwehrt, diesem die Erteilung der in Art. 8 Abs. 1 dieser Richtlinie vorgesehenen Genehmigung zu verweigern, wenn in diesem Mitgliedstaat eine Krankenhausbehandlung verfügbar ist, deren medizinische Wirksamkeit außer Frage steht, dieser Patient aber aufgrund seiner religiösen Überzeugungen die angewandte Behandlungsmethode ablehnt, es sei denn, diese Weigerung ist objektiv durch das legitime Ziel gerechtfertigt, einen bestimmten Umfang der medizinischen und pflegerischen Versorgung oder ein bestimmtes Niveau der Heilkunde zu erhalten, und stellt ein geeignetes und erforderliches Mittel dar, mit dem dieses Ziel erreicht werden kann, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Augstākās tiesa (Senāts) (Oberster Gerichtshof, Lettland) mit Entscheidung vom 8. März 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 20. März 2019, in dem Verfahren
A
gegen
Veselības ministrija
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev (Berichterstatter), des Präsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Zweiten Kammer sowie der Richter A. Kumin, T. von Danwitz und P. G. Xuereb,
Generalanwalt: G. Hogan,
Kanzler: M. Aleksejev, Referatsleiter,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 13. Februar 2020,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- von A, vertreten durch S. Brady, Barrister, P. Muzny, avocat, und E. Endzelis, advokāts,
- der Veselības ministrija, vertreten durch I. Viņķele und R. Osis als Bevollmächtigte,
- der lettischen Regierung, zunächst vertreten durch I. Kucina und L. Juškeviča, dann durch L. Juškeviča und V. Soņeca als Bevollmächtigte,
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von M. Russo, avvocato dello Stato,
- der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna, M. Horoszko und M. Malczewska als Bevollmächtigte,
- der Europäische Kommission, vertreten durch B.-R. Killmann, A. Szmytkowska und I. Rubene als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 30. April 2020
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 20 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2004, L 166, S. 1, berichtigt im ABl. 2004, L 200, S. 1), von Art. 8 Abs. 5 der Richtlinie 2011/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2011 über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung (ABl. 2011, L 88, S. 45), von Art. 56 AEUV und von Art. 21 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen A und der Veselības ministrija (Gesundheitsministerium, Lettland) über die Weigerung, eine Genehmigung zu erteilen, die es dem Sohn von A gestattet, eine aus dem lettischen Staatshaushalt finanzierte Gesundheitsversorgung in einem anderen Mitgliedstaat in Anspruch zu nehmen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Verordnung Nr. 883/2004
Rz. 3
In den Erwägungsgründen 4 und 45 der Verordnung Nr. 883/2004 heißt es:
„(4) Es ist notwendig, die Eigenheiten der nationalen Rechtsvorschrif...