Die aktuelle Datenlage weist laut Zimmermann et al. darauf hin, dass sogenannte entfremdende Verhaltensweisen sehr viel stärker die Beziehung des Kindes zum entfremdenden Elternteil selbst schädigen als zum entfremdeten Elternteil. Die Erklärung von kindlichen Kontaktabbrüchen mit einem entfremdenden elterlichen Verhalten, wie es in der älteren "PAS"-Literatur vorkommt, sei daher nicht plausibel.
Nach Zimmermann et al. dienten in der ersten Welle von Veröffentlichungen, in denen das Konzept des "PAS" vertreten wurde, Vorwürfe von sexuellem Missbrauch und Misshandlung gegen einen Elternteil aber auch Fälle von Kontaktverweigerung durch den "entfremdenden" Elternteil als Ausgangspunkt für als Falschbeschuldigungen durch Kinder eingestufte Vorwürfe. Die Bandbreite der elterlichen Verhaltensweisen, die als "entfremdend" angesehen wurden, reicht von Falschinformation über den anderen Elternteil und suggestiv induzierten "Scheinerinnerungen" über abwertende oder verunsichernde Äußerungen über den anderen Elternteil vor dem Kind, bis hin zum Unterbinden von Kontakt und dem Zerstören von positiven Erinnerungsauslösern an den anderen Elternteil.
In den aktuellen Veröffentlichungen, die sich auf das Konzept und die Begrifflichkeiten stützen, werden nach Zimmermanny et al. eher kindliche Kontaktverweigerungen als behauptete Falschaussagen gegen einen Elternteil in den Vordergrund gerückt. Zudem wird generell die aktive Rolle von Kindern stärker betont.
Hier stellt sich die Frage: Wer hat denn nun die angebliche Erkrankung, der Elternteil oder das Kind?
Bei der Entstehung des "Parental-Alienation-Syndroms" spiele ein angebliches Brainwashing“ durch einen Elternteil eine Rolle. Es handle sich also um eine induzierte Symptomatik. Auch der Begriff "Brainwashing" stammt allerdings eher aus dem Bereich der Mythologie. Immer wieder tauchen Behauptungen auf, dass Sektenmitglieder im Kontext eines rituellen Missbrauchs in der Lage seien, ihre Opfer so genannter "Mind Control" oder einem "Brainwashing" zu unterziehen. Solche angeblichen geheimen Manipulationstechniken, welche auch von Geheimdiensten angewandt würden, werden in Verschwörungsnarrativen bestimmten Angehörigen heimlicher Eliten quasi als "Geheimwissen" unterstellt. Im Kontext Elternkonflikt sollen plötzlich Mütter auch über solche Geheimtechniken verfügen, wobei es im Internet gerade zu Scheidungskonflikten alle möglichen Hinweise und Anregungen gibt, aber keine Tipps dazu, wie man "Mind Control" ausüben könne.
Das Gefährliche bei der Annahme solcher – nicht erwiesener – Techniken oder Fertigkeiten ist, dass der Wille des Kindes dadurch komplett ignoriert wird. Die Annahme eines "PAS" bedeutet quasi die völlige Außerkraftsetzung des vom Kind dargelegten Kindeswillens. Dieser ist aber konstitutiver Teil des Gesamtkindeswohlbegriffs.
Wird nun aber davon ausgegangen, dass der Wille des Kindes nicht authentisch, sondern durch "Brainwashing" im Rahmen eines so genannten "Parental Alienation Syndroms" beeinflusst ist, ist die richterliche Erwägung, diesen ohnehin "verfälschten Willen" nicht zu ermitteln und in der Entscheidung nicht weiter zu berücksichtigen, nur allzu naheliegend. Wichtige Grundsätze der Rechtsstellung des Kindes als Subjekt im Verfahren, Informationsrechte und rechtliches Gehör werden damit systematisch ausgehebelt.
Dabei verdeutlicht die UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK) ganz klar das Recht von Kindern und Jugendlichen, in allen sie betreffenden Entscheidungen gehört zu werden. Und dabei bleibt es nicht: Gemäß Art. 12 der UN-KRK ist der geäußerte Kindeswille von den Vertragsstaaten, insb. aller das Kind berührenden Gerichtsverfahren, auch angemessen zu berücksichtigen.