Einführung
Die Diskussion um die verfassungsrechtlich bedenkliche gerichtliche Handhabung von § 522 Abs. 2 ZPO und seine letztendliche Neufassung haben in den Hintergrund treten lassen, dass die Vorschrift in Familienstreitverfahren nicht anwendbar ist (§ 117 FamFG). Dies fällt in der Praxis zurzeit nicht weiter auf, weil die Oberlandesgerichte § 522 Abs. 2 ZPO überwiegend weiterhin, quasi stillschweigend, anwenden. Dies begründet ein latentes Risiko, von der mündlichen Beschwerdehauptverhandlung abgeschnitten zu werden und – bei grundsätzlichen Rechtsfragen – obendrein vom Zugang zum BGH. Für Familienstreitsachen gilt nämlich allein § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG. Hiernach kann das Instanzgericht ohne mündliche Verhandlung entscheiden, und zwar unter Voraussetzungen, die weit hinter denen des § 522 ZPO zurückbleiben. Mit dieser "Diskriminierung" der Familienstreitsachen befasst sich folgender Beitrag.
I. Wozu mündlich verhandeln?
Sachvortrag, Beweisanträge und Rechtsausführungen sind selbstverständlicher Inhalt der vorbereitenden Schriftsätze. Allerdings ist auch die mündliche Verhandlung aufgrund ihrer zusätzlichen, durch die Aktenkorrespondenz nicht zu ersetzenden Vorteile grundsätzlich unentbehrlich:
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größere Anschaulichkeit und Eindringlichkeit des Bildes vom Lebenssachverhalt und der Streitpunkte, |
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Frische und Natürlichkeit des Vortrags, |
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erleichterte Möglichkeit der Anpassung an den Einzelfall, |
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Beseitigung von Missverständnissen, Lücken und Unklarheiten, |
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Ergänzung und Aufklärung des Streitstoffs, |
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Fernhaltung von Lüge und Schikane, |
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zwanglose Gewährung beiderseitigen Gehörs, |
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Möglichkeit des Hinwirkens auf eine gütliche Einigung, |
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Erörterung richterlicher Hinweise und Fragen mit der Möglichkeit sofortiger Erwiderung, |
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Verfahrenskonzentration, |
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Recht des Beteiligten auf persönlichen Vortrag, § 137 Abs. 4 ZPO, welches immerhin so stark ausgeprägt ist, dass seine Verletzung einen Verfahrensmangel darstellt, |
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damit verbunden die Chance der Partei, den Sachverhalt selbst überzeugend darzustellen und Verständnis für den eigenen Standpunkt zu erlangen, |
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Erhöhung der Akzeptanz richterlicher Entscheidungen. |
II. Die Mündlichkeit als Verfahrensgrundsatz
1. Die einfachrechtliche Regelung des § 128 Abs. 1 ZPO bestimmt – scheinbar zwingend: "Die Parteien verhandeln über den Rechtsstreit vor dem erkennenden Gericht mündlich". Weitere Vorschriften der ZPO setzen die mündliche Verhandlung voraus (z.B. §§ 286 Abs. 1, 309, 137 Abs. 4 ZPO). Andererseits sind auch Entscheidungen ohne mündliche Verhandlungen vorgesehen (§§ 128 Abs. 2, 283, 307 Abs. 2, 331 Abs. 3, 331a ZPO). Die mündliche Verhandlung ist daher zwar grundsätzlich ein Paradigma des modernen Zivilprozesses im Sinne einer obligatorischen Mündlichkeit, dass also Endentscheidungen nicht ohne mündliche Verhandlung ergehen dürfen. Aufgrund der vielen Ausnahmen läuft dies jedoch letztlich auf eine reine Zweckmäßigkeitsprüfung hinaus, die für jede Verfahrensart und für jeden Verfahrensabschnitt gesondert zu beantworten ist. Einen einfachrechtlichen Anspruch auf mündliche Verhandlung kennt die Verfahrensordnung daher nicht.
2. Dies wird auch für die verfassungsrechtliche Ebene so gesehen. Weder aus Art. 19 Abs. 4 GG noch aus Art. 103 Abs. 1 GG lasse sich ein Verfahrensgebot der mündlichen Verhandlung ableiten.
3. Art. 6 Abs. 1 EMRK enthält eine europäische Justizgewährleistungsgarantie. Die Vorschrift garantiert – wenngleich im Rahmen ihrer immanenten Grenzen – die Öffentlichkeit des zivilgerichtlichen Verfahrens und umfasst damit eine Garantie der mündlichen Verhandlung auch für das Rechtsmittelverfahren. Öffentlichkeit ohne Mündlichkeit verfehlt nämlich ihren Zweck, ein faires Verfahren zu sichern. Im Rahmen der immanenten Grenzen von Art. 6 EMRK soll eine Entscheidung über die "Zulassung" des Rechtsmittels ohne mündliche Verhandlung ergehen können.
III. Zwischenergebnis
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Die mündliche Verhandlung ist zweckmäßig. Sie steht – neben der Schriftsatzfertigung – im Zentrum unserer berufsrechtlichen Pflichten als Anwälte, dient den Richterinnen und Richtern bei der Findung des materiell richtigen Ergebnisses und fördert die Akzeptanz der Justiz bei den rechtsuchenden Bürgern. |
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Die mündliche Verhandlung gehört zu einem fairen öffentlichen Verfahren und ist grundsätzlicher... |