Dr. Christine Hohmann-Dennhardt
Wenden wir also den Blick auf das Verhältnis der beiden Gerichte zueinander und auf die Hinter- wie Vordergründe ihrer Entscheidungen. Ausschlaggebend für solch divergierende Entscheidungsergebnisse wie bei der elterlichen Sorgetragung sind gewiss die Gewichtungen, die beide Gerichte den einzelnen miteinander konfligierenden und ins Verhältnis zueinander zu setzenden multipolaren Rechtspositionen der betroffenen Grund- und Menschenrechtsträger bei deren Abwägung jeweils beigemessen haben. Dabei kann zunächst keines der gefundenen Ergebnisse als richtig oder falsch eingestuft, sondern lediglich für überzeugend oder nicht hinreichend ausgewogen gehalten werden.
Bedeutsam ist deshalb, welche der Entscheidungen letztlich maßgeblich ist. Diese Frage ist im Verhältnis von EGMR und BVerfG allerdings nicht ganz einfach zu beantworten. Festzuhalten ist hier zunächst, dass der deutsche Staat, dessen Gesetzgeber der Menschenrechtskonvention zugestimmt und sie in innerdeutsches Recht transformiert hat, bei einer vom EGMR festgestellten Unvereinbarkeit seiner gesetzlichen Regeln mit der Menschenrechtskonvention verpflichtet ist, das Recht in Einklang mit der Konvention zu bringen, wobei er gut daran tut, dies möglichst bald vorzunehmen, um bei längerem Fortbestehen des konventionswidrigen Rechts nicht Gefahr zu laufen, in Einzelfällen, in denen dies gerügt wird, immer wieder mit Sanktionen und Entschädigungsverpflichtungen überzogen zu werden. Und auch die Verwaltungsbehörden ebenso wie die Gerichte sind grundsätzlich verpflichtet, einen konventionsgemäßen Rechtszustand zu gewährleisten und dabei die Entscheidungen des EGMR zu berücksichtigen. Tun sie dies nicht in hinreichendem Maße, kann dies vor dem BVerfG als Verstoß gegen die jeweils berührten Grundrechte in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip gerügt werden, wie dies das Bundesverfassungsgericht in seiner Görgülü-Entscheidung festgestellt hat. Da die Menschenrechtskonvention in der Normenhierarchie der deutschen Rechtsordnung aber lediglich den Rang eines Bundesgesetzes einnimmt, sind ihre Gewährleistungen für das Bundesverfassungsgericht selbst kein verfassungsrechtlicher Prüfmaßstab. Diese nehmen jedoch auf die Auslegung der Grundrechte insofern Einfluss, als das Bundesverfassungsgericht sie und die zu ihnen ergangene Rechtsprechung des EGMR bei seiner Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte mit heranzieht und berücksichtigt, es sei denn, dies führte zu einer auch von der Konvention nicht intendierten Minderung des Grundrechtsschutzes nach dem Grundgesetz. Das Bundesverfassungsgericht ist also nicht unmittelbar und zwangsläufig an die Entscheidungen des EGMR gebunden. Dieser wiederum kann aber Entscheidungen des BVerfG wegen Verletzung der Menschenrechtskonvention beanstanden und der Bundesrepublik deswegen die Zahlung von Entschädigungen auferlegen.
Nicht diese Sanktionsmöglichkeit ist es jedoch, die das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechungspraxis dazu bewegt, den Entscheidungen des EGMR bei seiner Grundrechtsinterpretation maßgebliche Bedeutung beizumessen. Es ist zum einen seine, von Art. 1 Abs. 2 GG bestärkte eigene Verantwortlichkeit, mit dazu beizutragen, Verletzungen des Völkerrechts nach Möglichkeit zu verhindern und den Menschenrechten durch die Grundrechte Geltung zu verschaffen. Zum anderen ist es der Impetus, durch Offenheit gegenüber den Argumenten des EGMR bei gleichzeitigem Wunsch, dass auch dieser sich eingehend mit den Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts auseinandersetzt, wechselseitig an Erkenntnis zu gewinnen und so gemeinsam zur Harmonisierung des europäischen Menschen- und Grundrechtsschutzes beizutragen. Von dieser Bereitschaft des Aufeinanderzugehens zeugt nicht nur die Caroline II-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, sondern auch die erneute Entscheidung des Gerichts vom 21. Juli 2010 zum Sorgerecht von Vätern nichtehelicher Kinder und zu der Frage, wie die Familiengerichte in sorgerechtlichen Streitigkeiten nicht miteinander verheirateter Eltern zu verfahren haben, bis der Gesetzgeber eine Regelung trifft, die einerseits der Konvention und den Vorgaben des EGMR und andererseits dem Grundgesetz Rechnung trägt.