A. Einleitung
In Bezug auf die familienrechtspsychologische und forensisch-psychiatrische Begutachtung handelt es sich traditionell um zwei unterschiedliche Vorgehensweisen mit nicht identischen Schwerpunktsetzungen:
Die familienrechtspsychologische Sachverständigentätigkeit beinhaltet so gut wie immer die Begutachtung des gesamten Familiensystems, und zwar meist (nur) in den durch Gerichtsbeschluss genannten zwei Generationsebenen von Eltern und Kind, während in der psychiatrischen Expertise eher die dyadische Begutachtung einzelner Personen im Kontext zum Psychiater im Vordergrund steht.
Andererseits gibt es mittlerweile etliche Gemeinsamkeiten im gutachtlichen Vorgehen und vor allem im formalen Aufbau eines Gutachtens, wobei insbesondere in den letzten 10 bis 15 Jahren deutliche Annäherungen in beiden gutachtlichen Vorgehensweisen erfolgten, wenn beispielsweise der psychiatrische Sachverständige im Rahmen einer Begutachtung ein klinisches Krankheitsbild eines Elternteils im Kontext zu dessen Erziehungsfähigkeit beurteilt.
Dann müssen allerdings über die übliche Krankheitslehre hinaus auch Kenntnisse der Familienpsychologie und Familiendiagnostik vorliegen. Dennoch behandelt die medizinisch-psychiatrische Wissenschaft z.T. die familienrechtliche Begutachtung durch Psychiater immer noch stiefmütterlich. In dem renommierten Lehrbuch von Müller/Nedopil wird z.B. nur auf einer einzigen des insgesamt 539 Seiten umfassenden Werkes das dort – zu allem Überfluss – schon längst nicht mehr aktuelle Familien- und Sorgerecht sowie die Adoption angesprochen.
Mit Durchsetzung der Systemtheorie seit den 1940er-Jahren und des systemischen Denkens etablierte sich bereits vor mehr als 20 Jahren auch in der familienrechtspsychologischen Begutachtung ein familienpsychologisches und familiendiagnostisches Verständnis und Vorgehen, während bis heute noch in der forensischen Psychiatrie eher die Diagnostik einer seelischen Erkrankung von Familienmitgliedern, vor allem die der Eltern bzw. eines Elternteils im Vordergrund steht.
Dieser Entwicklung folgte dann allerdings in den letzten 10 bis 15 Jahren die Überzeugung aus Sicht der Juristen und Sachverständigen, dass nicht allein die Diagnose einer seelischen Erkrankung entscheidend ist, sondern die Auswirkungen von seelischen Erkrankungen auf die Familienmitglieder, vor allem auf die Kinder.
Aus medizinischer Sicht gewannen im Kontext und mit Blick auf diese Entwicklung beispielsweise Fragen und Ergebnisse der High-Risk-Forschung, Resilienz- und Bewältigungsforschung sowie der Vulnerabilitätsforschung in Begutachtungsfällen der Familiengerichtsbarkeit an Bedeutung.