Im Jahr 2021 gab es eine der seltenen Stattgaben durch das BVerfG im Bereich des § 1671 BGB. In dem der Verfassungsbeschwerde zugrunde liegendem Verfahren übertrug das Familiengericht, gestützt auf zwei Sachverständigengutachten, die elterliche Sorge auf die Kindesmutter, obwohl das Kind (geb. 2008) den mütterlichen Haushalt im Jahr 2018 verlassen und zum Vater gewechselt war. Hintergrund war eine von den Sachverständigen angenommene schwere psychische Erkrankung des Kindesvaters. Im Beschwerdeverfahren erklärte das Kind erneut, beim Vater leben zu wollen. Das OLG änderte die Entscheidung des Familiengerichts und übertrug gem. § 1671 Abs. 1 S. 1, 2 Nr. 2 BGB die elterliche Sorge dem Vater. Den Angaben des Kindes zufolge bestehe zwischen ihm und der Mutter keine Bindung mehr. Die Feststellungen der Sachverständigen zur besseren Erziehungseignung der Mutter und zu einer schweren psychischen Erkrankung des Kindesvaters seien daher hinfällig. Die Kammer wiederholt zur Begründung seiner Stattgabe zunächst seine Rechtsprechung, nach der die Gerichte von den Feststellungen fachkundiger Verfahrensbeteiligten abweichen dürfen; Voraussetzung ist indes, dass in diesem Fall eine anderweitige verlässliche Grundlage gegeben ist und die Fachgerichte die Abweichung tragfähig begründen. Beides war vorliegen nach der Ansicht der Kammer zu verneinen. Es fehle an einer Begründung, warum den sachverständigen Schlussfolgerungen für eine schwere psychische Erkrankung beim Kindesvater und für eine Beeinflussung des Kindeswillens beim Verlassen des mütterlichen Haushalts im Jahr 2018 nicht gefolgt werden könne. Vor dem Hintergrund, dass ein Kindeswille dann unbeachtlich sein könne, wenn dessen Befolgung seinerseits mit dem Kindeswohl nicht vereinbar wäre und eine Kindeswohlgefährdung nach sich zöge, mangele es an einer ausreichenden Begründung des Oberlandesgerichts.
Für die Praxis macht die Entscheidung der Kammer erneut die Bedeutung des durch die Gerichte zu ermittelnden Kindeswillens für die gerichtliche Entscheidung in Sorge- oder Umgangsverfahren deutlich. Entsprechend wichtig für die Praxis ist die Kenntnis der Fälle, in denen ein geäußerter Kindeswille nicht beachtlich sein kann: zum einen, wenn die manipulierten Äußerungen des Kindes die wirklichen Bindungsverhältnisse nicht zutreffend bezeichnen, zum anderen, wenn die Befolgung des Kindeswille seinerseits mit dem Kindeswohl nicht vereinbar wäre und zu einer Kindeswohlgefährdung führen würde.
Das OLG Bamberg hat auf die Beschwerde in einem einstweiligen Anordnungsverfahren am 8.10.2020 das Aufenthaltsbestimmungsrecht für die bei der Kindesmutter lebenden Kinder auf diese mit der Beschränkung auf das Gebiet der Bundesrepublik übertragen, nachdem der Kindsvater unwidersprochen erklärt hatte, die der türkischen Nationalität angehörende Kindesmutter verweigere die Herausgabe der Pässe und habe geäußert, mit den Kindern in die Türkei ziehen zu wollen. In der Praxis sollte genau erwogen werden, ob ein entsprechendes Verfahren sinnvoll erscheint. Es stellt sich schon die Frage einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage für die getroffene Entscheidung. § 1671 BGB regelt die Aufhebung von Teilbereichen oder der ganzen gemeinsamen elterlichen Sorge und die Übertragung auf einen Elternteil. Eine beschränkte Übertragung eines Teilbereiches auf einen Elternteil, wie vorliegend geschehen, erscheint vor diesem Hintergrund zumindest problematisch. Auch wäre die Rechtsprechung des BGH zur Frage der Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts auf einen Elternteil bei Umzugswilligkeit des anderen Elternteils in Fällen wie dem Vorliegenden zu beachten. Inhaltlich ordnet das OLG eine Grenzsperre an. Besteht die konkrete Gefahr, dass ein Elternteil ohne entsprechende Befugnis mit den gemeinsamen Kindern das Bundesgebiet verlassen will, käme insoweit der Erlass einer einstweiligen Anordnung im Rahmen des § 1666 BGB in Betracht. Die Herausgabe der Pässe kann zudem über die analoge Anwendung von §§ 1632 Abs. 2, 1684 Abs. 2 BGB erreicht werden, was im Verhältnis zu § 1671 BGB ein milderes Mittel darstellt.