Dieter Henrich5. Aufl., Gieseking-Verlag, 2023, 128 Seiten, broschiert ISBN 978-3-7694-1280-2, 59 EUR
"Die Europäisierung des Familienrechts geht jedenfalls munter weiter." So das Fazit von Rechtsanwalt/Fachanwalt für Familienrecht Argiris Balomatis, Tübingen, in seinem Editorial zu Heft 4 der FF (FF 2023, 133). Recht hat er! Fast.
Denn an den europäischen Grenzen macht das Familienrecht schon keinen Halt mehr. Die familiären Beziehungen werden immer internationaler und beschränken sich längst nicht mehr nur auf Europa. Einer der wesentlichen Gründe dafür sind die wachsende Mobilität der Bevölkerung sowie Migration, Flucht und Wanderungsbewegungen. In der täglichen Arbeit sowohl der Familienrechts-(fach-)anwälte als auch der Familiengerichte nimmt der Anteil an Verfahren mit grenzüberschreitenden Bezügen beständig zu (vgl. Menne, NJ 2021, 497 ff.). Der Rechtsanwender sieht sich bei der Bearbeitung entsprechender Sachen vor vielfältige Herausforderungen gestellt – es geht nicht nur um ungewohnte Fragestellungen wie etwa nach der internationalen Zuständigkeit des Gerichts, zu dem in der Sache anwendbaren Recht, zu ungewohnten "Lösungsansätzen" wie beispielsweise einer Scheidung durch den Standesbeamten (vgl. EuGH v. 15.11.2022 – C-646/20, FF 2023, 44, 90 und dazu Balomatis, FF 2023, 133) oder um Rechtsbestimmungen, die nicht immer leicht zu finden sind. Nein – zu den eher "technischen" Problemen kommen vielfach noch Sprach- und Verständigungsprobleme hinzu und die Notwendigkeit, eine gewisse interkulturelle Kompetenz zu entwickeln (vgl. Menne, FamRZ 2016, 1223 ff.).
Der vorliegende, bereits seit vielen Jahren gut bewährte Band – verfasst von Dieter Henrich, einem der ganz "Großen" im internationalen Familien- und Familienverfahrensrecht – bietet das in rechtlicher Hinsicht erforderliche Rüstzeug, um diese Herausforderungen zu bewältigen: Als eine Art von Leitfaden gibt er erste Orientierung und Hilfestellung im Dickicht der komplizierten Materie. Der Stoff wird in einzelne Themenbereiche wie Ehescheidung, Unterhalts- und Gütersachen sowie Versorgungsausgleich und Kindschaftssachen aufgeteilt und auf ca. 130 Seiten kurz, knapp und übersichtlich erläutert. Innerhalb der einzelnen Themenkreise werden jeweils die internationale Zuständigkeit, das anwendbare Recht sowie ggf. auch die Anerkennung und Vollstreckung entsprechender ausländischer Entscheidungen abgehandelt. An geeigneten Stellen finden sich spezielle Hinweise zum Verfahren wie etwa Zustellungsprobleme im grenzüberschreitenden Rechtsverkehr oder Erläuterungen dazu, von welcher spezifischen international-privatrechtlichen Norm einzelne inländische Rechtsinstitute erfasst ("qualifiziert") werden. Wo angebracht, wird auf den ordre public eingegangen; also die Frage, ob bestimmte, nach ausländischem Recht erzielte Ergebnisse mit den Wertungen des Grundgesetzes vereinbar sind. Die seit August 2022 geltenden, geänderten Bestimmungen der Brüssel IIb-VO, dem wichtigsten europäischen verfahrensrechtlichem Rechtsinstrument für internationale Familienrechtssachen, sind in der Neuauflage selbstverständlich umfassend eingearbeitet. Und, ebenfalls ein wichtiger Aspekt: Der Verlag hat dem Band ein sehr sorgfältig erstelltes Stichwortverzeichnis beigegeben, das dem Nutzer hilft, den umfangreichen Stoff passgenau zu erschließen.
Bei dem Werk von Dieter Henrich handelt es sich um keine "Einsteigerdarstellung". Vielmehr ist ein gewisses Maß an Grundlagen und Vorkenntnissen erforderlich, um den Band mit Gewinn nutzen zu können. Denn der "Einstieg" in den Stoff erfolgt unmittelbar, ohne große Umschweife oder langatmige theoretische Ausführungen. An der einen oder anderen Stelle ist das etwas schade, weil man sich als Nutzer des Bandes ein klein wenig "Mehr" wünscht und es in der Praxis, bei der Problemlösung, vielfach nicht damit getan ist, "nur" die internationale Zuständigkeit oder das anwendbare Recht zu prüfen. Mit der Antwort auf diese beiden, im Band gut geklärten Fragen beginnt in der Praxis – zumal der beratenden, rechtsvorsorgenden Tätigkeit – vielfach erst die eigentliche Arbeit: So stellt sich im Unterhaltsrecht, wenn es um die Anerkennung ausländischer – zumeist osteuropäischer – Titel geht, bisweilen das Problem, dass das ausländische Gericht die Unterhaltshöhe nicht betragsmäßig tenoriert hat, sondern als Bruchteil des Nettoeinkommens des Unterhaltsschuldners. Oder – bei Unterhaltsbedarf bzw. bei der Prüfung des Selbstbehalts – ist eine von den inländischen Verhältnissen abweichende Höhe der Lebenshaltungskosten im Ausland zu berücksichtigen (Rn 166 ff.). Bei der Regelung des Versorgungsausgleichs stellt sich, wenn erst einmal Zuständigkeit und anwendbares Recht geklärt sind, fast schon routinemäßig die Frage, wie die notwendigen Informationen über eine ausländische Altersversorgung erlangt werden können und wie sie zu bewerten ist (Rn 280.). Ähnliche Probleme bestehen in grenzüberschreitenden Kindschaftssachen, bei deren Behandlung es in der Praxis zu vielfältige...