Interview mit Fritz Finke, Vorsitzender Richter am OLG a.D., Gütersloh
FF/Schnitzler: Sie waren bis zum Januar 2011 Vorsitzender Richter eines Familiensenats des OLG Hamm. Das OLG Hamm hat die meisten Familiensenate und ist damit wohl auch das größte OLG, das Familiensachen in insgesamt 13 Senaten bearbeiten muss. Sie haben die Leitlinien des OLG Hamm in den letzten Jahren als Nachfolger von Herrn Rogner koordiniert. Welche Erinnerungen haben Sie an diese lange Zeit, die Sie im Familienrecht tätig waren und wie ist es, wenn diese ganze Last von heute auf morgen von den Schultern genommen wird?
Finke: In meiner richterlichen Tätigkeit bin ich seit 1980 überwiegend mit Familiensachen befasst gewesen, und zwar zunächst auch beim Amtsgericht. Nach verschiedenen Unterbrechungen, in denen ich meist im Zivilrecht tätig war, habe ich meinen Schwerpunkt im Familienrecht gefunden. Es handelt sich um einen sehr interessanten Bereich mit vielfältigen Lebenssachverhalten, der selbst dann, wenn man meint, so ziemlich alle möglichen Varianten kennen gelernt zu haben, immer wieder mit neuen Erfahrungen überrascht. Natürlich bleibt man auch hier nicht verschont von gelegentlichen Frustrationen, wenn man bei der Absicht, Rechtsfrieden herzustellen, an seine Grenzen stößt. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn die Masse der zu treffenden Entscheidungen und deren Umfang nur ein routinemäßiges Vorgehen zulässt. Seit dem Beginn meiner Beschäftigung mit dem Familienrecht hat sich vor allem das Unterhaltsrecht nach und nach grundlegend verändert, indem die Einzelfallgerechtigkeit dermaßen in den Vordergrund gerückt worden ist, dass man sich fragt, ob es noch praktikabel ist im Massengeschäft, als das sich das Unterhaltsrecht darstellt. Selbst ein alltäglicher Sachverhalt kann Anlass geben zu mehrfachen fiktiven Berechnungen, Kontrollberechnungen und verschiedenen Zumutbarkeits- und Billigkeitsabwägungen unter Berücksichtigung zahlreicher Einzelkriterien, so dass selbst Fachleute die dabei bestehenden Fehlermöglichkeiten nicht sicher beherrschen können. Aufgrund der ständigen "Verfeinerung" der Berechnungs- und Abwägungsmethoden ergibt sich eine Komplexität des Unterhaltsrechts, die es imm0er schwerer macht, es den Beteiligten zu vermitteln. Aus meiner Sicht hat sich hierdurch die Akzeptanz des Rechts bei den davon Betroffenen vermindert. Die wiederholte Anregung des BGH an die Instanzgerichte, zur Vereinfachung bei der Feststellung des entscheidungserheblichen Sachverhalts von der Möglichkeit der Schätzung nach § 287 ZPO Gebrauch zu machen, hat bisher wenig bewirkt und scheint zur Lösung des Problems auch nicht geeignet. Pauschalierungen, die sich bei weitgehend gleichen Lebenssachverhalten als Lösungsmöglichkeiten anbieten, werden dagegen vom BGH abgelehnt, so dass sich die aufgezeigte Tendenz der Komplizierung und Unübersichtlichkeit des Unterhaltsrechts wahrscheinlich noch weiter fortsetzen wird.
FF/Schnitzler: Die große Reform des Verfahrensrechts ist jetzt seit knapp zwei Jahren in Kraft. Sie haben die umfangreichen Reformen noch miterlebt. Die Zuständigkeit des Familiengerichts ist deutlich erweitert worden. Sind denn in den Senaten beim OLG Hamm und in den unteren Instanzen weitere Stellen zusätzlich bewilligt worden, wie das an sich ursprünglich wohl auch geplant war?
Finke: In der ersten Instanz hat es – nach meiner Kenntnis – keine personelle Aufstockung der Familiengerichte gegeben. Für die Beschwerdeinstanz ist am OLG Hamm sogar ein Familiensenat geschlossen worden, so dass es jetzt nur noch 12 Familiensenate gibt. Dabei ist zu bemerken, dass diese Senate, die ausschließlich mit Familiensachen befasst sind, jeweils mit einem Vorsitzenden und drei Beisitzern besetzt sind, während in den davor liegenden Jahren teilweise nur zwei Beisitzer vorhanden waren. Auf der anderen Seite muss man sehen, dass die Eingänge in Familiensachen beim OLG Hamm seit Jahresbeginn um rund 35 % zugenommen haben. Eine ähnliche Entwicklung hat es seit vielen Jahren nicht mehr gegeben. Sollte dieser Trend anhalten, ist die Arbeit mit dem derzeitigen Personalstand nicht zu bewältigen, zumal der zeitliche Aufwand in Eheunterhaltssachen mit den dort zu treffenden umfangreichen Billigkeitsentscheidungen und den dafür erforderlichen Sachverhaltsaufklärungen, die vielfach erst im Senatstermin abschließend erfolgen können, erheblich zugenommen hat.
FF/Schnitzler: Wie sind Ihre Erfahrungen mit dem Vorrang- und Beschleunigungsgebot und mit dem § 137 FamFG?
Finke: Das zuletzt bereits nach der früheren Rechtslage geltende Vorrang- und Beschleunigungsgebot des § 155 FamFG hat sich nach meinen Erfahrungen, die sich auch auf entsprechende Nachfragen meinerseits auf Fortbildungsveranstaltungen mit Anwälten und Richtern stützen, bewährt. Nur in wenigen Ausnahmefällen kommt es nach dem frühen Termin zu einer ungenügenden Förderung des Weiteren Verfahrens. Probleme können dann auftreten, wenn die kurzfristig angesetzten Termine nicht mit den beteiligten Anwälten abgesti...