Einführung
Der Deutsche Anwaltstag (DAT) fand vom 20. bis 24.6.2022 virtuell und in Präsenz in Hamburg statt – unter dem Motto: "Miteinander für das Recht". Die Arbeitsgemeinschaft Familienrecht hatte gemeinsam mit dem Ausschuss Familienrecht eine Veranstaltung mit einem hochkarätig besetzten Podium organisiert. Außerdem wurden bei einer außerordentlichen Mitgliederversammlung die Wahlen zum Geschäftsführenden Ausschuss nachgeholt, die wegen der Pandemie auf der Herbsttagung 2021 nicht hatten durchgeführt werden können.
Herausforderungen der Reproduktionsmedizin für das Familienrecht
Die Arbeitsgemeinschaft befasste sich nicht zum ersten Mal mit dem Thema. Sie hatte bereits im Juni 2016 ein "Forum Abstammungsrecht" organisiert. Außerdem gab es bereits 2017 Vorschläge einer Arbeitsgruppe beim Bundesjustizministerium, wie das Abstammungsrecht modernisiert werden könnte. Daraus ist leider bis heute keine Gesetzgebung erfolgt. Das Embryonenschutzgesetz von 1990 muss jedoch dringend reformiert werden, denn die gesellschaftlichen und medizinischen Entwicklungen sind längst vorangeschritten. Die rechtspolitische Bewertung der Reproduktionsmedizin müsse allerdings neben den juristischen Problemstellungen medizinische, sozialpolitische, psychologisch- und ethisch-moralische Fragen berücksichtigen, betonte Rechtsanwalt und Notar a.D. Wolfgang Schwackenberg, der die Veranstaltung gemeinsam mit Rechtsanwältin Eva Becker moderierte.
Medizinische Hilfen und Risiken
Welche Möglichkeiten es gibt, neues Leben zu ermöglichen, erläuterte die Ärztin Prof. Dr. Annika Ludwig, die zu dem Thema "Fortpflanzungsmedizin in Deutschland" bereits an der Expertenkommission der Leopoldina, Akademie der Wissenschaften, beteiligt war und in Hamburg eine Praxis für Frauengesundheit und Pränatalmedizin leitet. Eltern, deren Kinderwunsch unerfüllt bleibt, kann durch medizinische Eingriffe geholfen werden, zum Beispiel durch die Invitro-Fertilisation. Dass dabei gesundheitliche Risiken entstehen können, sollte Teil der ärztlichen Aufklärung sein. Neben den medizinischen Grenzen – eine Schwangerschaft kann nicht erzwungen werden – gebe es auch rechtliche Grenzen. So ist die Embryonen-Selektion verboten, ebenso die Eizellspende und die Leihmutterschaft. Den Ärzten ist die medizinische und psychologische Beratung in diesen Fragen strafbewehrt untersagt.
Reformbedarf im Recht der Reproduktionsmedizin
Dass diese Regeln zumindest in Frage gestellt werden müssen, wurde im Vortrag von Dr. Marko Oldenburger deutlich. Der Fachanwalt für Medizinrecht und für Familienrecht, Mitglied im DAV-Ausschuss Familienrecht, kennt sich bestens aus in Fragen des "Kinderwunschrechts", wie Eva Becker sein Spezialgebiet bezeichnete. Mit den rigiden Verboten im Embryonenschutzgesetz habe der Gesetzgeber Risiken und Missbräuchen entgegenwirken wollen, die aber so nicht eingetreten seien, erläuterte der Anwalt. Er schilderte die verschiedenen Problemlagen, die entstehen können, wenn beim unerfüllten Kinderwunsch medizinisch nachgeholfen wird. Es sind ja nicht nur Frau und Mann, sondern auch homosexuelle Paare oder auch Single-Frauen, die sich Hilfe wünschen, um das ersehnte Kind zu bekommen. Oldenburger führte für den rechtspolitischen Handlungsbedarf zahlreiche Beispiel an: so sollte die Eizellenspende analog der Samenspende nebst Spenderinnenregister legalisiert werden; Frauen und Frauenpaare sollten einen Rechtsanspruch auf künstliche Befruchtung haben und eine altruistische Form von Leihmutterschaft nach englischem Vorbild sollte eingeführt werden. Bei der Reform sollten getrennte gesetzliche Neuregelungen für Wissenschaft u. Forschung auf der einen Seite (z.B. Reproduktionsmedizingesetz) und für ärztliche Behandlungen bei Kinderwunsch auf der anderen Seite (z.B. Fortpflanzungsmedizingesetz, Bioethikgesetz) entstehen.
Reform des Abstammungsrechts – Regelungen für die Elternschaft
Für die renommierte Rechtswissenschaftlerin Prof. em. Dr. Dr. h.c. Dagmar Coester-Waltjen ergibt sich die Reformbedürftigkeit des Abstammungsrechts nicht nur aus den Veränderungen der Fortpflanzungsmöglichkeiten durch die Medizin und auch nicht nur aus der Anerkennung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften als Grundlage für die Familie und für die Ehe. Vielmehr sei das geltende Recht schon allein durch die gewandelten Einstellungen zu Sexualität, Fortpflanzung, Paarbeziehung und Elternschaft reformbedürftig geworden. Als Beispiele nannte sie hier die grundsätzliche Frage zur Anfechtung in der Vaterschaft des Ehemannes, auch in den Fällen, in denen das Ehepaar schon sehr lange getrennt lebt. Hinzu komme, dass durch kleinere Reformen teilweise im Hinblick auf reproduktionsmedizinische Maßnahmen – wie die Samenspende – und anderen Teilreformen ein Konglomerat von Regelungen entstanden sei, das kaum noch grundlegende Prinzipien erkennen lasse, ein "Flickenteppich mit Löchern und Stolperknoten".
Ist die wahre Eltern-Kind-Beziehung durch Genetik und Biologie bestimmt oder spielt auch, und wenn ja, in welchem Maße, die persönliche Verantwortungsübernahme für das Kind eine Rolle? Wer zum Beispiel ist der Vater des von einer Samenspende gezeugten Kindes? Warum darf neben der Geburtsmutter nicht eine weitere Frau die ...