Die Entscheidung des BGH ist unter Berücksichtigung der dem Sachverhalt zugrunde liegenden besonderen Umstände zu befürworten.
Der Anspruch auf Ausbildungsunterhalt ergibt sich aus § 1610 Abs. 2 BGB. Hiernach schulden Eltern ihren Kindern grundsätzlich eine begabungsangemessene Ausbildung. Das Ausbildungsunterhaltsverhältnis zwischen Eltern und Kindern ist allerdings von gegenseitiger Rücksichtnahme geprägt, weshalb das Kind seine Ausbildung mit Fleiß und Zielstrebigkeit durchzuführen hat. Nach gängiger Rechtsprechung des BGH entfällt der Anspruch auf Ausbildungsunterhalt wegen Verletzung des dem § 1610 BGB innewohnenden Gegenseitigkeitsverhältnisses, wenn sich der Auszubildende nach Beendigung der allgemeinen Schulausbildung nicht innerhalb eines angemessenen Zeitraums um die Aufnahme einer seinen Fähigkeiten und Neigungen entsprechenden Berufsausbildung bemüht. Dabei sind gewisse Ausbildungsverzögerungen je nach den Umständen des Einzelfalles hinzunehmen. Je älter allerdings das Kind bei Schulabschluss ist und je eigenständiger es seine Lebensverhältnisse gestaltet, desto mehr tritt an die Stelle der Elternverantwortung die Eigenverantwortung für seinen Berufs- und Lebensweg.
Im vorliegenden Fall lag zwischen dem Realschulabschluss und dem Beginn des Ausbildungsverhältnisses ein Zeitraum von drei Jahren. Außerdem war die Unterhaltsberechtigte zum Zeitpunkt des Realschulabschlusses bereits volljährig, hatte eine eigene Wohnung und gestaltete ihre Lebensverhältnisse eigenständig. In Anbetracht dieser Umstände hätte ausgehend von den oben dargelegten Grundsätzen der Rechtsprechung ein Unterhaltsanspruch versagt werden können. Dem standen allerdings die besonderen Umstände des der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhaltes entgegen:
Die Anspruchstellerin verlangte Unterhalt für eine Erstausbildung, auf die grundsätzlich jedes Kind einen Anspruch hat. Sie hatte sich durchaus um einen Ausbildungsplatz bemüht, indem sie mehrere Praktika mit dem Ziel absolviert hatte, im Anschluss hieran bei den jeweiligen Firmen einen Ausbildungsplatz zu erhalten. Sie hatte die mittlere Reife nur mit sehr mäßigen Noten erreicht, wodurch die Chancen einen Ausbildungsplatz zu erlangen, von Anfang an vermindert waren. Der sehr mäßige Schulabschluss war zumindest teilweise auf die von der Anspruchstellerin nicht zu vertretene familiäre Situation zurückzuführen, die sich aus einem notwendig gewordenen Umzug von den Niederlanden nach Deutschland und dem damit verbundenen Wechsel des Schulsystems ergab. Berücksichtigt wurde auch, dass die Anspruchstellerin allein mit dem Realschulabschluss ohne jedwede Berufsausbildung keine Erwerbstätigkeit hätte finden können, bei der sie ein einigermaßen auskömmliches Einkommen erzielt hätte. Die Versagung des Unterhaltsanspruchs hätte daher gravierende Folgen für ihre wirtschaftliche Lebensstellung gehabt.
Außerdem fiel zugunsten der Anspruchstellerin ins Gewicht, dass sie in der Zeit nach dem Realschulabschluss bis zur Aufnahme der Ausbildung ihren Lebensunterhalt durch eigenes Einkommen bestritten hatte, sodass der auf Unterhalt in Anspruch genommene Vater nicht übermäßig wirtschaftlich belastet wurde. Der Unterhaltspflichtige musste letztendlich nicht mehr Unterhalt zahlen, als wenn die Anspruchstellerin ihre Ausbildung sofort nach dem Schulabschluss aufgenommen hätte, zumal er für die Dauer der nunmehr von der Anspruchstellerin aufgenommenen Ausbildung auch noch Leistungen des Staates (Kindergeld) erhielt, die seine Unterhaltslast mindern.
Die vorliegende Entscheidung passt in den Kontext einer früheren Entscheidung des BGH vom 29.6.2011, nach der eine Unterhaltsberechtigte den Ausbildungsunterhaltsanspruch gegenüber ihren Eltern nicht deshalb verliert, weil sie infolge einer Schwangerschaft und der anschließenden Kindesbetreuung ihre Ausbildung nach Vollendung des dritten Lebensjahres des Kindes verzögert aufgenommen hatte.
Es bleibt also festzuhalten, dass für die Frage, ob den Eltern Unterhaltszahlungen für eine Ausbildung zugemutet werden können, die Umstände des Einzelfalles entscheidend sind. Maßgeblich ist neben den vorhergehenden Erwägungen, ob die Eltern nach den schulischen Ergebnissen und dem bisherigen Werdegang des Kindes nicht mehr damit rechnen mussten, für die Ausbildung des Kindes eingesetzt zu werden. Bei der Abwägung ist auch der Wegfall von steuerlichen Erleichterungen, Kindergeld oder kindbezogenen Gehaltsbestandteilen aufgrund des fortgeschrittenen Alters des Kindes unabhängig von seinem Ausbildungsstand zu berücksichtigen.
Trude-Maria Schick, Rechtsanwältin und Fachanwältin für Familienrecht, Euskirchen
FF 10/2013, S. 399 - 403